Amazonen: Lebenskraft pur

Der Bildband «Amazonen – Das Brustkrebsprojekt von Uta Melle» (Kehrer Verlag) ist eine Wucht. Fotografisch wie inhaltlich. Ein Buch, das schonungslos eine Seite des Lebens präsentiert, die oft genug verdrängt wird.

[textad]Es ist ein offenes, ein engagiertes, ein ehrliches Buch. «Amazonen» zwingt zum Hinschauen auf diese, im ersten Moment verstörenden, Bilder. Sukzessive ziehen die Fotos und die Texte Mann und Frau in ihren Bann, bis zum Schluss die Lebensfreude und Lebenskraft der dargestellten Frauen jeglichen optischen Makel beiseite schieben, nebensächlich, unkenntlich machen. Am Ende bleibt eine auf Selbstbewusstsein basierende Schönheit und Erotik, die jede auf Hochglanz polierte und retuschierte Busen- und Po-Erotik als das offenbart, was sie ist: eine langweilige Chimäre.

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Uta Melle hat ihr Brustkrebsprojekt bewusst «Amazonen» genannt. Denn dieser Titel beschreibt die Frauen äußerst treffend – über das rein Äußerliche hinaus. Amazonen sind ein Frauenvolk aus der griechischen Sagenwelt. Sie waren Kriegerinnen und amputierten sich eine Brust, um besser mit Pfeil und Bogen kämpfen zu können. Die Amazonen waren Frauen, die gekämpft und gewonnen haben.

Das macht auch die abgebildeten Frauen zu positiven modernen Amazonen: Sie kämpften und kämpfen gegen den Brustkrebs. Mussten teilweise ebenfalls eine oder beide Brüste amputieren, um in diesem Kampf bestehen zu können – ein Kampf, den sie nicht aufgeben, in dem sie ihr Leben teilweise neu ordnen mussten, aber ihre Lebensenergie, Lebenskraft und Lebensfreude nicht verloren haben.

Und so präsentieren sie sich auch den Fotografinnen Esther Haase und Jackie Hardt: stolz, selbstbewusst und lebensbejahend, aber verletzlich, melancholisch und gezeichnet. Sie zeigen sich im ersten Teil auf den Farbfotos von Jackie Hardt in Einzelportraits als kriegerisch stolze Amazonen. Meistens verdeckt die Rüstung noch die amputierte Brust.

Im zweiten Teil, den Esther Haase überwiegend in Schwarz-Weiß fotografierte, ändert sich das radikal. Die Frauen sind nicht mehr im Studio. Sie sind in einem alten Fabrikgelände, sind ungezwungen und lassen so viele Hüllen fallen, wie sie selbst wollen. Und meistens sind das alle. Die 20 Frauen sind in den sehr sensiblen Fotografien mal verletzlich, mal melancholisch, immer von der Krankheit gezeichnet, aber überwiegend lebensstrozend, sinnlich, und sinnenfroh.

Bildband, der die Sicht verändert

Uta Melle hat das Projekt «Amazonen» ins Leben gerufen, nachdem sie selber im Alter von 38 Jahren die Diagnose Brustkrebs erhalten hatte. Damals machte ihre Freundin Jackie Hardt mit ihr Vorher-Nachher-Fotos. Der Keim für «Amazonen» war gelegt. Später suchte Uta Melle über das Internet Frauen für das Projekt. 20 Frauen zwischen 37 und 54, aus ganz Deutschland und aus allen sozialen Schichten machten mit, ließen sich fotografieren, erzählten Sophie Albert von ihrem Schicksal und ihrer Definition von Schönheit.

«Amazonen» soll Mut machen und eine Schweigemauer aufbrechen. Brustkrebs ist die häufigste Krebsdiagnose bei Frauen. Allein in Deutschland bekommen über 50.000 Frauen jährlich diese Diagnose. Es ist die häufigste Krebsart bei Frauen und die häufigste Todesursache der Dreißig- bis Sechzigjährigen. Jede zehnte Frau bekommt im Laufe ihres Lebens Brustkrebs. Zu der Diagnose selber kommen oft noch die körperlichen und sozialen Folgen hinzu: der Verlust von einer oder beiden Brüsten, Haarausfall, Chemotherapie und eine vollkommene Umwälzung des bisherigen Lebens und sozialen Umfeldes. Und es bedeutet vor allem eines: ein Kampf gegen den Tod.

Die «Amazonen» von Uta Melle haben diesen Kampf aufgenommen – und daraus auch neue Stärke gewonnen. Das Ergebnis ist ein sehr berührender Bildband mit sehr persönlichen Texten und Fotos. Ein Bildband, der die Sicht verändert. Auf das Leben und die Definition von Schönheit. Wirken die offenherzigen Aktaufnahmen anfangs noch abstoßend, so ändert sich das sehr schnell. Die Narben, die fehlenden Brüste, die Prothesen treten in den Hintergrund. Was hängen bleibt und die Blicke auf sich zieht, sind die gezeichneten, die sensiblen, die herzlichen Gesichter. Das offene Lachen. Die Lebensfreude. Aber auch die Verletzlichkeit und Melancholie.

Das liegt vor allem an den schwarz-weiß Aufnahmen von Esther Haase. Diese sind oftmals sehr kontrastreich, düster, rauh, roh und herb. Aber in Gestaltung und Lichtführung äußerst sensibel und intim.

Die «Amazonen» sind vom Leben gezeichnet, aber sie haben sich nicht unterkriegen lassen. Es sind mutige und selbstbewusste Frauen. Frauen, die zu ihrer Krankheit und zu deren Zeichen stehen, die damit offen umgehen. Frauen, die sagen: «Take it or leave it!» Und genau das verleiht ihnen ihre faszinierende Ausstrahlung. Eine Ausstrahlung, die in den Bildern und Texten bestens zum Ausdruck kommen. «Amazonen» – ein Buch und vor allem Frauen, die schlicht faszinieren.

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128 Seiten; 30 Euro

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