Anti-Scheimpflug: Der Lichtstrahl

Die Schärfe in einem Bild nicht parallel zur Film/Sensor-Ebene verlaufen zu lassen, ist ein extrem starkes Gestaltungselement. Dieser „Anti-Scheimpflug“-Effekt sollte deshalb mit Bedacht eingesetzt werden.

Lichtstrahl in einer Kirche

Panasonic Lumix FZ 200, 1/25s bei Blende 2.8 mit 16mm Brennweite und ISO 400 © Lukas Braun

Lukas Braun aus Stuttgart schreibt zu diesem Bild: April 2017, Santa Maria del Mar, Barcelona, Einfangen eines Lichstrahls in der Kirche

Paradoxerweise sehen wir Licht nur, wenn die Wellen direkt in unser Auge eintreten – und das tun sie nur, wenn sie von etwas reflektiert worden sind (oder wenn man, was nicht ratsam ist, direkt in eine Lichtquelle blickt). Einen Lichtstrahl von der Seite zu sehen, ist deshalb etwa so ungewöhnlich wie eine Schärfenebene, die anders durchs Bild verläuft als gewohnt. Beides ist hier der Fall:

Diese Farb-Fotografie aus dem Innenraum einer gotischen Kirche in Barcelona zeigt den Blick nach oben zu den Fensterbögen  der Apsis und ganz rechts zum Rosettenfenster des Querschiffs.

Während die Wände der Kirche in bleiernem Grau erscheinen, sind die bunten Fenster von aussen hell überstrahlt und lassen nur noch die blauen Teile erkennen. Aus einem Teil des Rosettenfensters rechts oben scheint ein deutlich erkennbarer Lichtstrahl diagonal durch den Innenraum der Kirche und damit durch den Bildausschnitt nach links unten.

[bildkritik]

„Godbeam“, Gottesstrahl, nennen die Amerikaner es, wenn solche Lichterscheinungen aus den Wolken auf die Erde sichtbar werden: Wie erwähnt sehen wir Licht in der Regel nur frontal und fast immer als Widerschein eines beleuchteten Gegenstands, der noch dazu einen Teil des Wellenspektrums ausfiltert und damit Farbe evoziert.

Den seitlichen Blick auf einen an unserem Auge vorbeigehenden Lichtstrahl sehen wir also nur dann, wenn etwas den Weg des Lichts kreuzt, das den Strahl bricht und das Licht teilweise streut: Ein Laserstrahl ist bis auf den Widerschein (den roten, blauen oder grünen Punkt) unsichtbar, es sei denn, das Medium, durch das er geschickt wird (in der Regel die Luft…) wird zum Beispiel mit Trockeneisnebel so verunreinigt, dass schwebende Tröpfchen oder Partikel den Strahl stören und sichtbar machen.

Diesen Effekt hast Du hier in einer Kirche festgehalten, und Du hast das Bild in der Kategorie „Architektur“ eingereicht. Das finde ich gar nicht unpassend, denn obwohl es um den Lichtstrahl geht, hat der Bau, in dem Du ihn fotografiert hast, nicht wenig damit zu tun: Ich kann mir gut vorstellen, dass die Erbauer der Kirchen irgendwann erkannt haben, dass durch kleine Öffnungen („Blende) in einem dunklen Raum Lichteffekte entstehen, die zur sakralen Wirkung des Baus beitragen, weil sie ansonsten selten zu sehen sind: Dieser Lichtstrahleffekt tritt nämlich in Kirchen aufgrund der Kerzenruss-verstaubten Luft und der optimalen Kontrast-Bedingungen recht häufig auf (das ist eine rein persönliche Beobachtung – ich habe in meiner Jugend dank kunsthistorisch interessierter Eltern  so manche romanische und gotische Kirche in Europa gesehen).

Was die technischen Daten angeht, hast Du mit Einstellungen gearbeitet, die  sinnvoll erscheinen – ich nehme an, ein Stativ war auch dabei. Allerdings ist bei heutiger Ausrüstung mit einer Weitwinkel-Brennweite und ruhiger Hand auch das denkbar.

Die weit offene Blende von 2.8 ist zwar nicht, was man in der Architektur anwenden würde: Da geht es darum, den Blick über eine räumliche Struktur gleiten zu lassen, ohne sie zusätzlich räumlich zu machen, was Schärfentiefe mit einer speziellen Form der Freistellung im Bild macht: Sie lenkt den Blick auf einen willkürlich vom Fotografen ausgewählten Tiefen-Bereich im Raum. Bei den hier herrschenden Distanzen zum Objekt würde ich sogar sagen, dass wenig von den Unschärfe-Effekten der Offenblende erkennbar würde.

„Würde“, denn Du hast in Lightroom oder einem anderen Programm eine noch viel weitergehende Schärfenmethode angewandt: Den Anti-Scheimpflug-Effekt. Er beruht darauf, dass die fokussierende Linse nicht genau plan parallel zum Film/Sensor steht, sondern abgewinkelt: Dadurch verläuft der Bereich der Schärfe in der Bildebene in einem entsprechenden Winkel.

Es ist also nicht alles in der Aufnahme von einem bis zwei Meter Abstand scharf. Aus der Schärfen-Tiefe wird also irgendein Bereich im Raum, der im Extremfall theoretisch rechtwinklig zur Bildebene verlaufen könnte. Den Effekt kann man mit Fachkameras mit flexibler Einfallsoptik erzielen, die für Architekturfotografie auch für Perspektivenkorrektur verwandt werden. Oder, im Hobbybereich, mit Lensbaby-Objektiven.

Du hast mir mitgeteilt, dass Du den Effekt hier allerdings nachträglich eingebaut hast. Das gleiche gilt wohl für den Farbfilter, der fast schon zum Color-Key in Blau wird.

Während letzteres zur Bildaussage beiträgt und Deine Interpretation einer stahlgrauen/bläulichen und damit recht kalten Kirche transportiert, halte ich den Anti-Scheimpflug für fehl am Platz.

Du hebst damit ein Phänomen im Bild heraus, das an sich schon herausragend ist und keinen weiteren Fingerzeig mehr braucht: „Schau mal, der Lichtstrahl hier“. Wenn die gesamte Fotografie in ihrer Gestaltung in Komposition sich auf ein solches Motiv ausrichtet ist es heikel, mit weiteren Techniken zusätzlich Aufmerksamkeit zu fordern und zu lenken: Du lässt dem Betrachter überhaupt keinen Spielraum mehr, seine eigene Sichtweise zu entwickeln und das Bild nach seinen Vorlieben zu sehen.

5 Kommentare
  1. fherb
    fherb sagte:

    Als ich mir Lukas‘ Bild angesehen habe und noch nichts dazu gelesen hatte, war ich gespannt, was Peter schreibt und in den Kommentaren kommt. Für mich „hat das Bild ‚was“ und ich kann Lukas‘ Idee nachempfinden. Ich kenne zwar nicht das originale Bild (Raw) aus der Kamera, aber das ist ganz bestimmt langweiliger, als das, was Lukas hier schon gestaltet hat.

    Das Bild lebt für mich aus einem Dreieck, dass von den Fenstern, die leider nicht komplett scharf sind, und dem Lichtstrahl aufgespannt wird, während dieses Dreieck von weiteren Mustern hinterlegt ist. s. Bild.

    (zweiter Kommentarteil mit Bild kommt gleich noch)

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    • fherb
      fherb sagte:

      Ich empfinde dabei die Fenster und den Lichtstrahl als zentrale Bildelemente und den Rest des Bauwerkes als „Hintergrundmuster“. Davon ausgehend wäre es geschickt gewesen, die komplette gebogene Fensterfront sehr scharf zu lassen und den Unschärfeeffekt explizit darüber und darunter anzuwenden (s. Bereich in nachfolgendem Bild). So ergäbe sich ein klares Dreieck als „Vordergrund“ mit „Fensterbogenzeile“ und Lichtstrahl auf den das Auge fokussiert wird und die Gemäuerstruktur als wohl angeordnetes Hintergrundmuster. Das wäre mit einem Spezialopjektiv übrigens nicht machbar.

      Und wenn ich es mir so vorstelle: Dann würde mir der Beschnitt noch nicht so recht gefallen. Der linke Dreieckspunkt ist mir ein kleines Stück zu weit links und die Fläche im rechten unteren Gesteinsbogen ist mir noch zu dominant.

  2. dierk
    dierk sagte:

    ich habe zufällig genau so ein Objektiv, das am Vollformat diesen Werten entspricht, das Micro Nikkor PC 85mm/2.8.

    Bisher habe ich es meistens für Sachaufnahmen verwendet und mich (und vielleicht auch andere) interessierte bei dieser Bildbesprechung, wie die hier durch Bearbeitung künstlich erzeugte Unschärfe mit einem echten T/S Objektiv aussieht. Dafür bietet unsere Kirche genügend Höhe und somit Abstand.

    Alle Aufnahmen aus der Hand mit ISO Automatik an der intern stabilisierten Sony A7RII. Durch die Limitierung auf max. 6400 ISO ging bei f/16 die Belichtungszeit auf 1/8 Sek. runter, wie man sieht, ohne Probleme!

    VG
    dierk

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  3. dierk
    dierk sagte:

    Ich stimme Peter zu,
    dieser hier genannte Anti-Scheimpflug-Effekt ist bei diesem Bild für mich leider nur Effekthascherei. Wenn es denn überhaupt als Solches gedacht ist. Diese Form der Bearbeitung zerstört den angestrebten Effekt mit dem Lichtstrahl. Dazu kommt, dass die schönen Fenster durch die Bearbeitung verwaschen werden und außerdem zu sehr überstrahlt sind.

    Was hätte ich anders gemacht:
    ich hätte auf jeden Fall bei solchen Kontrasten eine Belichtungsreihe gemacht, um mir dann das am besten belichtete Bild auszusuchen oder eine HDR Bearbeitung zu machen
    wenn es dieser Bereich der Fenster sein soll würde ich die jetzt unscharf gemachten Bereiche oben und unten statt dessen etwas abdunkeln und so dem Lichtstrahl die gewünschte Aufmerksamkeit geben.

    Zur Technik:
    die verwendete Lumix DMC-FZ200 ist eine Bridge Kamera mit einen sehr kleinen CMOS-Sensor 1/2,3″ 6,2 x 4,6 mm (Cropfaktor 5,6!)
    das Leica Elmarit 2.8/4.5-108 (entspricht 25mm bis 600mm an FF), d.h. die benutzten 16mm sind ca. 90mm an FF, das Objektiv ist stabilisiert
    die Blende 2.8 an dem kleinen Sensor mit Cropfaktor 5,6 entspricht f/16!
    hier ist mehr dazu zu finden:
    https://photographylife.com/sensor-size-perspective-and-depth-of-field/

    VG
    dierk

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