Bewegungsunschärfe: Zwischen zwei Genres

Bewegungsunschärfe als Abstraktionsmethode ist ein grossartiges Experimentierfeld für wagemutige Fotografinnen. Sinnvollerweise operiert man dabei aber im manuellen Modus der Kamera und probiert verschiedene Ausstellungen aus.

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Hanspeter Lang aus Hausen in der Schweiz schreibt: Das Bild entstand im Hallenstadion in Zürich. Mein Ziel war es, die Dynamik und die Bewegungen durch Bewegungsunschärfe zu zeigen. Ich wählte eine Belichtungszeit von 1/20 sec bei Blende 10 und habe wegen dem hellen Hintergrund etwas überbelichtet. Die Kamera hielt ich in der Hand, ohne Stativ.

Vier Eishockey-Spieler sind in dieser Farbaufnahme knapp zu erkennen, zwei in rotem Dress in der linken Hälfte des Bildes, die beiden anderen,  offenbar in einen Zweikampf verstrickt, in der rechten Hälfte. Der Hockeystock des einen dieser beiden ist das einzige einigermassen scharf abgebildete Objekt in der ganzen Aufnahme. Das gesamte Bild ist in Bewegungsunschärfe verwischt. Die Perspektive von relativ steil oben zeigt als Hintergrund der Spieler das Eisfeld. Über dem ganzen Ausschnitt liegt ausserdem ein Muster, welches den Eindruck von Papier mit Prägestruktur ergibt.

Das Bild hat für mich zwei Stopp-Momente:

Zunächst frage ich mich, was ich an dem Hockeystock wichtig finden soll. Ist das eine spezielle Bewegung? Hängt dort irgendwo auch der Puck in der Luft, und ich sehe ihn bloss nicht? Irgendwann komme ich zum Schluss, dass dort nichts und der Stock rein zufällig scharf ist.

Der zweite Stopper ist das Muster über dem Bild, bei dem ich mich zuerst gefragt habe, ob es irgendeinKamera-Effekt wie Bokeh sein könnte, bis mir einfiel, dass in Eishockey-Stadions entweder Plexiglas oder ein starkes Netz die Zuschauer vor dem Puck schützt: Dieses Netz liegt hier zwischen der Szene und dem Fotografen. Weil es deutlich näher an den Spielern ist, konnte es auch bei einer Brennweite von 150mm nicht ganz in der Unschärfe verschwinden.

Du hast die Aufnahme in der Kategorie «Abstraktion» eingereicht. Es soll Bewegung und Dynamik ausdrücken und offenkundig kein Sportbild sein. Im Idealfall wäre in einer solchen Aufnahme einer der Spieler als Protagonist gestochen scharf und der Puck irgendwo in seinem Umfeld sichtbar. Das hätte eine Aufnahmetechnik bedingt, bei der Du zum Beispiel mit dem 3D-Autofokus an einem der Spieler drangeblieben wärst und mitten in der Action ausgelöst hättest. Die Bewegungsunschärfe würde durch dieses Mitziehen selektiv für den einen Spieler ausgeschaltet. Generell funktioniert es am besten, wenn die Bewegungsunschärfe den Gegensatz zum Stillstand inszeniert.

Das ist aber nicht der Fall, das ganze Bild ist unscharf, wenn auch die beiden Spieler rechts etwas deutlicher im Fokusfeld liegen. Dennoch ist die Abgrenzung vom Sportbild nicht ausreichend, ich suche nach Anhaltspunkten: Dass der Stock des einen in der Schärfe liegt, dürfte Zufall sein – ich halte es für schlicht unmöglich, dass Du das gezielt herbeigeführt hast, zumal Du mit einer 20stel Sekunde bei Blende 10 gearbeitet hast. Und noch dazu mit der Zeitautomatik.

Zeitautomatik? Ich frage mich, warum. Sehen wir uns die Exif-Daten an:

Du hast

  • die ISO-Empfindlichkeit bei 200 gelassen, allerdings wäre eine Senkung der Empfindlichkeit ein erster Weg, die Zeit hochzuschrauben;
  • mit Abblenden auf 10 den Zeitautomaten zur Erhöhung der Belichtungszeit  erzwungen;
  • ausserdem  den Belichtungsmesser auf Matrix belassen, was die Kamera zu einer komplexen Berechnung für eine typische Belichtungssituation veranlasst (was die Szene definitiv nicht ist);
  • mit der Belichtungskorrektur die Falschbelichtungstendenz der Automatik übersteuert (die Kamera geht von neutral heller Umgebung aus und tendiert deswegen bei Schnee- oder Sandstrand oder ähnlichen Umgebungen zur Unterbelichtung).

Anders gesagt: Du hast Dich verrenkt, um den Automatik-Modus der Kamera auszutricksen, damit Du ein (aus «Sicht» der Kamera) unscharfes, überbelichtetes Bild schiessen konntest.

Der direkte Weg dorthin führt über die Umschaltung auf manuelle Kamerasteuerung.

Dann eröffnet Dir die freie Wahl von Zeit und passender Blende den grössten Spielraum, wenn Du untypische Situationen ausprobierst. Dabei macht man eine Aufnahme mit einer geschätzten Einstellung, schaut sich am Monitor das Resultat und vor allem das Histogramm des Bildes an und korrigiert wunschgemäss. Und bei dieser Korrektur hat man freie Hand, ohne dass die Kamera irgendwo wieder eine Gegenmassnahme ergreift: Iso, Zeit, Blende. Im Nächsten Schritt wiederholt man das Prozedere, bis das Resultat den Vorstellungen entspricht. Ich mache das auch in der Landschaftsfotografie so. Es ist ein grosser Vorteil des digitalen Zeitalters, dass man diesen Lerneffekt in Echtzeit nutzen kann.  Erst mit der vollen Einstellungsautonomie hast Du auch die volle Gestaltungsfreiheit. Und es gibt keinen Grund, auf diese Freiheit zu verzichten, wenn die Umstände es nicht verlangen. Ein Hockeyspiel dauert lang genug, um Dir Übungsmöglichkeiten zu bieten.

Übrigens: Für ein Sportbild mit einem wirklich scharfen Spieler und viel Bewegungsunschärfe um ihn herum würde das Netz wahrscheinlich den Autofokus zu sehr beeinträchtigen, da hättest Du einen anderen Standort einnehmen müssen. Und das Objektiv – ein [amazon B004M18N20]Sigma 150 f2.8 Makro-Tele[/amazon], wenn es denn das gewesen ist – ist dafür trotz USM-Autofokus laut Testberichten nur bedingt geeignet.

Als rein künstlerische Abstraktion der Geschwindigkeit dieses Sports geht mir die Verfremdung der Aufnahme zu wenig weit.  Es ist noch zu viel Eishockey und zu wenig Tempo. Aber das kriegst Du (mit manueller Einstellung) bei weiteren Gelegenheiten und bewusstem Üben hin. Viel Erfolg!

3 Kommentare
  1. Sabine Münch
    Sabine Münch sagte:

    Hallo zusammen,

    danke für die tolle Kritik wieder einmal, Peter.

    Der scharfe Schläger inmitten der unscharfen Spieler irritiert mich enorm. Ich hätte ein scharfes Gesicht, zumindest ein scharfes Trikot erwartet, wenn der Rest des Bildes unscharf ist. Der Fokus auf dem Schläger inmitten all der Unschärfe zerstört für mich die Wirkung des Bildes.

    Vor kurzem hab ich auch Versuche mit langer Belichtungszeit bei Sportbildern gemacht und die Kamera manuell eingestellt. Was auch sonst? Alles andere finde ich viel schwerer nachvollziehbar beim Testen. ;-) Aber jeder ist da wohl anders.
    Viel Erfolg bei weiteren Versuchen!

    Grüße, Sabine

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  2. bilderjan
    bilderjan sagte:

    Für mich ist das Bild genau richtig! Es soll hier kein klassisches Sportfoto gezeigt werden, sondern eine sportliche/dynamische Aufnahme. Das ist nach meiner Meinung perfekt gelungen. Wichtig ist für mich, dass es wenigstens einen kleinen Schärfepunkt in so einer Aufnahme gibt. Dieser ist mit dem Schläger vorhanden – wo und was letztendlich bei so einer Aufnahme scharf ist ist eigentlich belanglos.
    Die beiden rechten Spieler sind auch noch soweit erkennbar, dass die Sportart zu erkennen ist. Wenn das gesamte Bild in der Unschärfe der beiden linken Spieler erschienen wäre, würde es mir nicht mehr zusagen da dann nichts mehr erkennbar gewesen wäre.
    Ob man bei so einer Aufnahme nun per Belichtungskorrektur und Halbautomatik, oder manuell vorgeht ist vollkommen egal. Mit der Halbautomatik ist man eher auf der sicheren Seite was die Belichtung angeht. Bei der manuellen Einstellung müssen zuerst einige Probeaufnahmen gemacht werden. Letztlich zählt aber nur das Ergebnis – und das passt.

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    • Peter Sennhauser
      Peter Sennhauser sagte:

      Klar, Abstraktion ist noch individueller in der Empfindung als alles andere.
      Was das Vorgehen angeht, bin ich nicht einverstanden – wenn nur das Ergebnis zählt, ist jeder Zufall, der gefällt, ein Kunstwerk.
      In meiner Ansicht steht hinter einem Kunstwerk eine Absicht/Idee/Aussage. Und der Weg zu einer Umsetzung, welche die spürbar macht, führt über Vorstellung, Umsetzungsidee, Konzeption zur Ausführung – und *dann* in den allermeisten Fällen bei den allermeisten Künstlern eine bisweilen jahrelange Reihe von Iterationen, bis das *Ergebnis* der Vorstellung entspricht.
      Ausnahmen bestätigen die Regel.

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