Bieler Fototage: Der Zahn der Zeit

Die Bieler Fototage feiern dieses Jahr ihren 15. Geburtstag. Und wenn das auch noch nicht so sehr alt ist, so lautet das Thema dieses Mal doch: “ Le temps fait son oeuvre (der Zahn der Zeit)“.

John Divola: As Far As I Could Get, 10 seconds, 12_15_2010, 3:29PM to 3:42PM PSTDas Programm der Bieler Fototage will die Erfahrung der Zeit aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Formen sichtbar machen – noch bis zum 25. September.

Die Zeit spielt für sämtliche Fotografien eine zentrale Rolle – von der Schaffung des latenten Bildes über die analoge oder digitale „Entwicklung“ bis hin zur Begutachtung des Endergebnisses, so heißt es in der Mitteilung der Bieler Fototage. „Le temps fait son oeuvre“ vereint aktuelle Arbeiten, die die Erfahrungen mit der Zeit thematisch oder über die visuelle Form darstellen. Die Erfahrungen werden unterschiedlich vermittelt, etwa durch eine Unschärfe, welche eine Bewegung während der Belichtungszeit andeutet, oder durch das Abbilden von Spuren der Zeit, oder durch einen Bezug auf ein Vorher oder ein Nachher. Wenn zeitgenössische Fotografen den zeitlichen Aspekt in den Vordergrund stellen, entstehen oft experimentelle Bilder.

Andrea Good: ES WARD / ES WIRD, 2011Die in Biel gezeigten Fotografinnen und Fotografen werden wie folgt vorgestellt:

Andrea Good realisiert mit einer Camera obscura großformatige Bilder, welche die Veränderungen auf dem ehemaligen Gelände einer Drahtzieherei in Biel festhalten. Auf den Landschaftsbildern, die Hans-Christian Schink an ganz verschiedenen Orten dieser Welt aufnimmt, ist jeweils eine schwarze Linie zu sehen, welche die Sonne wegen der langen Belichtungszeit von einer Stunde hinterlässt. Auf den Bildern von Roger Frei erfahren die vom Mondlicht beschienenen Alpen eine überraschende Plastizität. Die Belichtungszeit hat bei Claus Stolz (fokussiert.com: Sonne brennt Bilder) eine zerstörerische Wirkung auf die Negative, die wegen des Sonnenlichts zu «Sunburns» neigen. Die fotosensiblen Papiere, die f&d cartier verwenden, reagieren während der Belichtungszeit alle unterschiedlich auf das Licht.

Dank der GigaPan-Technik, die John Divola einsetzt, dringt das Auge des Betrachters immer tiefer in immer feinere Details auf dem Bild ein. Auf den 360-Grad-Panoramen von Arno Hassler ist eine Bewegung in der Zeit wahrzunehmen: Es ist die Bewegung des Fotoapparats, die auf den Bildern nachvollzogen werden kann. Die Hochgeschwindigkeitsbilder von Martin Klimas frieren den Moment, in dem fein gearbeite Porzellanfiguren brutal auseinanderbrechen, phänomenal ein. Auf eine vergleichbare Weise führen uns die Gebäude, die Alban Lécuyer im Moment von deren Sprengung festhält, die Grenzen unserer visuellen Aufnahmefähigkeiten vor Augen.

Lisa Roehrich zeigt in ihren nach der Art von Andy Warhols „Screen Tests“ gefilmten Portraits, wie schwierig es ist, sich in der Zeit zu bewegen. Das Video von Ilir Kaso zeigt ein sechsminütiges Morphing, welches die körperlichen Veränderungen der Mutter des Künstlers über 27 Jahre hinweg nachzeichnet. Das Werk von Enrique Muñoz García folgt der Ästhetik von Videogames und nimmt den farbigen Rhythmus von Zappern auf, die in intimen Momenten zwischen Zeitverlust und Selbstverlust oszillieren.

In „Heisenberg’s Offside“ von Jules Spinatsch (fokussiert.com: Spektakel in den Bergen) wird das Stade de Suisse mittels 3003 Fotos dargestellt, die von einer eigens programmierten Überwachungskamera während der Dauer eines Spiels in regelmässigen Intervallen alle drei Sekunden aufgenommen wurden. Raphael Hefti vs Alex Rich haben in einem großen Estrich in der Altstadt eine Installation realisiert, welche die Wahrnehmung des fotografischen Bildes durcheinanderbringt. Die Gestaltung der Website www.thisisserious.net gehört ebenso zum Konzept der Installation wie die Anwesenheit der Künstler selbst im Bild.

Dom Smaz: Wait Workers, 2009Die Bilder von Julian Salinas entstanden alle im Vorfeld eines wichtigen Ereignisses. Sie bilden die Emotionen ab, welche das anstehende, künftige Ereignis hervorruft. Michael Fent zeigt das Vergehen der Zeit auf poetische Weise, indem er das Vergehen mit dem Tod assoziiert. Ganz anders Dom Smaz, der das Vergehen der Zeit in seinen in San Diego realisierten Portraits aufzeichnet, indem er mexikanische Tagelöhner abbildet, die darauf warten, dass ihnen jemand Arbeit anbietet. Ausgehend von einer Sammlung von Familienfotos, die ursprünglich in einer Schuhschachtel aufbewahrt wurden, gestaltet Seba Kurtis eine Ausstellung, in der die Veränderungen auf den Bildern zu Symbolen für die wechselfällige Geschichte der Familie selbst werden.

„Kings of Cyan“ von Tim Davis bilden die Zeit ab, indem sie deren Spuren verfolgen. Die Bilder setzen sich mit Wahlplakaten auseinander, in denen die Farbe Cyan den Einflüssen des Wetters und der Zeit widersteht. In den mit historischen, kunstgeschichtlichen und ethnologischen Anspielungen gespickten Montagen vom doppelten Lottchen wird die Dialektik zwischen Vergangenheit und Gegenwart thematisiert. Alexis Guillier zeigt die Sammlung von mutwillig zerstörten oder von der Zeit angenagten Kunstwerken als Diaporama, das in zufälliger Reihenfolge auf mehreren Bildschirmen gezeigt wird.

Seba Kurtis: Shoe Box, 2008 Mit diesem Vorgehen wird es möglich, parallel verschiedene Zeitsegmente zu zeigen. Die Zeit, in der der Betrachter das Bild wahrnimmt, steht auch im Zentrum der phosphoreszierenden Bilder von Nicole Hametner, die nur zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt sichtbar sind: In der Dunkelheit der Nacht. Kunst im Augenblick ihrer Wahrnehmung ist das Thema von One Hour Photo. Das Projekt des Künstlers Adam Good limitiert die Zeit, in der das Bild gezeigt wird, auf eine Stunde, und kreiert dadurch einen einzigartigen, seltenen und wertvollen Augenblick. Georg Aernis Nachtpanoramen der Stadt Hongkong mit ihren Lichtern, die aus den Wohnungen herausstrahlen, zeigen uns, dass „schauen“ eine Tätigkeit ist, die eine Masse von Individuen gerne gleichzeitig ausübt.

David Willen zeigt 303 Polaroidbilder mit einzigartig privaten und vergänglichen Momenten – zu sehen ist der Kaffeesatz auf dem Grund der morgendlichen Kaffeetasse: eine klassische Auslegeordnung, um in die Zukunft zu blicken. Als Legende zu jedem Bild wird eine Schlagzeile aus der aktuellen Tagespresse eingesetzt. Das erstaunliche Kollektiv LimaFotoLibre dokumentiert eine anekdotische, lokale und historische Zeit in Lima, einer Stadt, die sich in einem konstanten Wandel befindet. Das Kollektiv überlagert, kombiniert und manipuliert die Bilder, die es dann mit Vorliebe im öffentlichen Raum ausstellt.

Seit fünf Jahren werden die Bieler Fototage vom Direktoren-Tandem Hélène Joye-Cagnard und Catherine Kohler erarbeitet – und dazu gehört auch das Rahmenprogramm: So gibt es verschiedene Führungen durch die Ausstellungen, Vorträge von Fotografen, an den Wochenenden „offenes Atelier“ und am 22. September eine Debatte über die Zukunft der Fotografie: Welche öffentliche Unterstützung für die Fotografie (in der Schweiz, d. Red.). Das ganze Programm findet sich auf der Website der Bieler Fototage 2011. Im Benteli Verlag, Bern-Sulgen-Zürich, ist ein dreisprachiger (de/fr/engl) Katalog mit zahlreichen Illustrationen und Beiträgen zu allen Fotografen erschienen – Titel [amazon 371651702X]Bieler Fototage 2011 – Die Zeit in der zeitgenössischen Fotografie[/amazon].

Bieler Fototage
bis 25. September
Geöffnet Mittwoch 14 – 18 Uhr, Donnerstag 14 – 20 Uhr , Freitag 14 – 18 Uhr, Samstag, Sonntag 11 – 18 Uhr.
Empfang und Tickets: Bahnhofplatz, Die Villa (Seevorstadt 75) und Alte Krone (Ring 1)
Kontakt: Bieler Fototage, Seevorstadt 71, Postfach 83, CH-2501 Bienne
Telefon +41 (0)32 322 42 45, info@jouph.ch

Bieler Fototage

1 Kommentar
  1. CorinneZS
    CorinneZS sagte:

    Ich finde vor allem die im Rahmen der Fototage stattfindende Photo Safari durch Biel spannend, weil es etwas zu gewinnen gibt. Wobei sich meine Chancen erhöhen dürften, wenn niemand diesen Kommentar liest. Und also auch niemand erfährt, dass sie am Sonntag um 13 Uhr bei der Alten Krone startet.

    Nett ist auch die Idee, Audio-Guides zu den Fotos ins Netz zu stellen – die Fotografen und Fotografinnen sagen darin etwas zu ihren Fotos, warum, weshalb, wo und wie.

    Als begeisterte Leserin von Fotokritiken und Kritiken von Fotokritiken bin ich darauf besonders gespannt. Was geht im Kopf von Fotografen vor? Und finden sie die richten Worte?

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