„Bahnsteig“: Bewegung vs. Stillstand

Die Linie ist hervorragend geeignet, den Blick des Betrachters zu lenken, Räume aufzuteilen und Dynamik oder Statik zu symbolisieren. Dem Fotografen bietet sie ein einfaches, aber mächtiges Kompositionselement. Wirkungen und Nebenwirkungen wollen wir uns in der folgenden Bildbesprechung vor Augen halten.

bahnsteig3

Unser Leser Bruno Reuter aus dem unterfränkischen Kleinostheim hat uns das obige Bild unter dem Titel „Bahnsteig” in der Kategorie ‚Street/Strasse‘ zur Besprechung eingereicht.

Er schreibt dazu: „Beim Betrachten des Bildes \“MTA\“ von Emil Licht erinnerte ich mich an ein ähnliches Bild von mir. Es entstand an einer Bahnstation in Amsterdam. Ich kam gerade die Treppe hoch und habe schnell das Bild gemacht, im nächsten Moment ging der junge Mann im Vordergrund auch weiter. Ich wollte die Mischung aus Stillstand und Bewegung festhalten. Später fiel mir dann auch die extreme blaue Farbe au, die durch die Fenster zu sehen ist.”

Über Ausrüstung und Aufnahmedaten ist hier nichts bekannt. Das von Bruno mit 4996 Pixel mal 3378 Pixel eingereichte Bild ist für normale Monitore doch etwas groß, so daß ich es für unsere Zwecke auf 1000 Pixel mal 676 Pixel verkleinert habe. Unverändert zeigt sich im Vorschaubild ein kräftiges Moiré, was allerdings im Vollbild verschwindet.

Die Belichtung zeigt sich dem Betrachter ausgewogen. Ein Blick auf das Histogramm bestätigt diesen Eindruck. Die Mehrheit der Tonwerte bewegt sich in den Zonen I bis VII. Geringfügige Abbrüche sind lediglich im Lichterbereich zu verzeichnen. Da es sich hierbei um die Lampen oberhalb des einfahrenden Zuges handelt, sehe ich dies als unproblematisch an. Einzig die Bahnhofsuhr scheint etwas überblendet. Hier hätte man eventuell in der Nachbearbeitung über das Werkzeug “Lichter wiederherstellen” nachjustieren können.


Das Bild wird durch eine Vielzahl von Linien dominiert, welche sich hauptsächlich aus der Konstruktion der Bahnhofshalle ergeben. Technisch ist diesbezüglich anzumerken, dass nicht alle vertikalen Linien im Bild genau senkrecht verlaufen. Ob dies auf eine leichte Verkippung bei der Aufnahme oder auf einen Abbildungsfehler des Objektivs zurückzuführen ist, sei für unsere heutige Betrachtung dahingestellt. Die kompositorische Wirkung dieser Linien möchte ich später etwas genauer betrachten.

Werfen wir nun einen genaueren Blick auf die wesentlichen Elemente der Komposition und deren bildliche Wirkung. In den o. g. Anmerkungen wird die Herausarbeitung des Widerspruchs zwischen der Dynamik des einfahrenden Zuges und der Statik der am Bahnsteig stehenden Person als wesentliches Anliegen des Bildes betont. Betrachten wir also erst einmal diese beiden Objekte. Der Zug erstreckt sich vom rechten Rand über etwa zweidrittel des Bildes. Aufgrund einer verhältnismäßig langen Belichtungszeit (meiner Schätzung nach zwischen 1/15 und 1/60 s) erscheint dieser in einer deutlichen Bewegungsunschärfe, welche eine zügige Fahrt von rechts nach links widerspiegelt. Flankiert wird dies durch die ebenfalls unscharf erscheinenden Personen in der linken Bildhälfte, die sich bereits auf den Zug zubewegen. Die Blickführung entlang der Bahn wird durch die in die gleiche Richtung verlaufenden Linien der Hallenträger, Bahnsteigkante und Wegplatten verstärkt:

Vergleichsfoto, dynamische Linien

Vergleichsfoto, dynamische Linien

Durch die perspektiv bedingt schräge Anordnung dieser Linien wird der dynamische Eindruck verstärkt. Im Widerspruch hierzu steht tatsächlich jene Person am rechten Bildrand, die scheinbar regungslos den einfahrenden Zug anblickt. Die statische Wirkung des Mannes wird durch den Beschnitt der Beine verstärkt, der ihn als vertikale Linie, welche die Bewegung durchbricht, in das Bild hineinragen lässt. Selbige Rolle nehmen die in der linken Bildhälfte angeordneten Säulen wahr:

Vergleichsfoto, Dynamik/Statik

Vergleichsfoto, Dynamik/Statik

Problematisch erscheinen die Anordnung der einzelnen Elemente im Bild und die Wirkung der einbezogenen dominanten Linien auf die Blickführung. Wie bereits dargestellt, liegt das Hauptaugenmerk auf der Person in der rechten Bildhälfte. Diese ist jedoch sehr nah am Bildrand angeordnet und nimmt nur einen kleinen Teil des Motivs ein. Um die gewünschte Bildwirkung zu erreichen, sollte ihr unbedingt eine höhere Präsenz eingeräumt werden. Im nächsten Absatz möchte ich hierzu einen möglichen Beschnittvorschlag unterbreiten und zur Diskussion stellen. Ein weiteres Problem sehe ich in den Säulen, welche die Aufnahme senkrecht zerteilen. Sie verleihen dem Bild deutlich mehr Statik als die abgebildete Person. Darüber hinaus teilt der vordere Pfeiler die Aufnahme faktisch in zwei unabhängige Bilder:

Vergleichsfoto, Bildteilung

Vergleichsfoto, Bildteilung

Der rechte Teil spiegelt hierbei den vom Fotografen angedachten Inhalt wieder, hingegen zeigt der linke Teil eine banale Szene, die nicht zur Umsetzung des angedachten Motivs beiträgt, sondern vielmehr von diesem ablenkt. Diese Wirkung wird durch den auffälligen Kontrast aus warmen Farbtönen der Bahnhofshalle und dem Blau des Abendhimmels verstärkt. Letztlich wird der Blickdurchgang durch die senkrechten Säulen erheblich gestört. Folgt der Betrachter von rechts einsteigend der durch den Zug dominierten Linienführung, prallt er unwillkürlich auf die Säulen, welche – da parallel zur Bahnsteigkante angeordnet – den Fluchtpunkt zwangsweise verdecken.

Abhilfe schafft ein kräftiger Beschnitt, welcher unter Aufgabe des linken Bildteils eine deutliche Konzentration auf das Hauptmotiv ermöglicht:

Vergleichsfoto, Beschnittvorschlag

Die Dynamik der schräg verlaufenden Linien wird durch die Verlagerung des Fluchtpunkts aus dem Bild verstärkt. Nahezu alle statisch wirkenden Elemente mit Ausnahme der Person werden aus dem Bild getilgt. Letztere verkörpert nunmehr neben den vertikalen Trägern im Hintergrund die einzig verbliebene vertikale Linie. Die Gewichtung in der Gesamtkomposition nimmt damit erheblich zu. Lange habe ich überlegt, den Beschnitt noch enger und die Person in den goldenen Schnitt zu setzen. Warum bin ich letztlich davon abgegangen? Dieses Motiv zielt nicht auf eine harmonische Wirkung. Der Gegensatz erzeugt die Spannung. Der gewählte Ausschnitt gibt dem Mann einen Gegenpart in Form der verwischten Person am (nunmehr) linken Bildrand. Die Hauptperson bleibt somit an den Rand gedrängt. Für mich unterstreicht dies den Gegensatz zum restlichen Bildinhalt und erscheint gestalterisch sinnvoll.

Zusammenfassung

Bruno verfolgt mit seiner Bildidee grundsätzlich eine gute Idee, indem er Bildspannung durch die Darstellung von Gegensätzen anstrebt. Bezüglich der kompositorischen Umsetzung möchte ich zusammenfassend auf drei Punkte hinweisen, die mir besonders am Herzen liegen:

  1. Linien haben aus ihrer Natur heraus eine starke raumgliedernde Wirkung. Dies kann im Extremfall zu einer Unterteilung in mehrere Einzelbilder führen. In diesem Fall sollte genau geprüft werden, ob dies mit der Intention des Bildes tatsächlich vereinbar ist.
  2. Liegt dem Bild eine deutlich erkennbare Fluchtpunktperspektive zugrunde, sollte stets überprüft werden, auf welche Elemente der Blick hierdurch gelenkt wird.
  3. Insbesondere weitwinklige Aufnahmen verleiten dazu, Elemente in die Komposition einzubeziehen, die vom eigentlichen Motiv ablenken. Bei der Komposition einer Aufnahme sollte daher immer geprüft werden, welche Inhalte tatsächlich der Umsetzung der Bildidee dienen.

Hin- und hergerissen bin ich von dem Beschnitt der Beine, halte diesen aber aus o. g. Gründen für legitim. Wie steht ihr dazu? Über Eure Meinungen im Kommentarbereich würde ich mich freuen!

4 Kommentare
  1. norbert hanke
    norbert hanke sagte:

    herzlichen dank für die hilfreiche besprechung (und natürlich das eingereichte bild, ohne das sie nicht möglich gewesen wäre).

    zu meinem ‚hätte‘, ‚könnte‘, ‚würde‘ muss ich mich aber erst ‚mal selbst an den bahnsteig stellen.

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  2. Christian Bartusch
    Christian Bartusch sagte:

    Ich habe deine Beschnittvariante auch in Erwägung gezogen, mich aber aus zwei Gründen dagegen entschieden. Zum einen will ich der Person im Vordergrund nicht ein weiteres statisches Bildelement entgegenstellen, zum anderen würde der Mann nach meinem Geschmack dann doch zu weit an den Bildrand rücken.

    Reizvoll an deinem Vorschlag finde ich, dass die Säule und der horizontale Dachträger das Bild einrahmen würden.

    Antworten
  3. Chilled Cat
    Chilled Cat sagte:

    Erstmal vielen Dank für das eingereichte Bild und die ausführliche Kritik.

    Es war auch mein erster Gedanke, dass der Bildteil mit dem Papierkorb links der Säule zum Bildinhalt nichts beiträgt sondern vom Hauptmotiv ablenkt.

    Für mich geht der vorgeschlagene Beschitt jedoch zu weit, die Säule würde ich im Bild behalten. Damit bleibt die Säule als statisches Element und auch der rennende Mann im Bild. Die Bahnhofsuhr, die einen Hinweis darauf gibt, warum der Mann überhaupt rennt, würde ich auch im Bild belassen.

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Trackbacks & Pingbacks

  1. […] Du hast die Aufnahme in der Kategorie «Abstraktion» eingereicht. Es soll Bewegung und Dynamik ausdrücken und offenkundig kein Sportbild sein. Im Idealfall wäre in einer solchen Aufnahme einer der Spieler als Protagonist gestochen scharf und der Puck irgendwo in seinem Umfeld sichtbar. Das hätte eine Aufnahmetechnik bedingt, bei der Du zum Beispiel mit dem 3D-Autofokus an einem der Spieler drangeblieben wärst und mitten in der Action ausgelöst hättest. Die Bewegungsunschärfe würde durch dieses Mitziehen selektiv für den einen Spieler ausgeschaltet. Generell funktioniert es am besten, wenn die Bewegungsunschärfe den Gegensatz zum Stillstand inszeniert. […]

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