Buchrezension «New York Sleeps»: Augenschmaus in Schwarzweiß

Den urbanen Raum von Menschen optisch zu „befreien“ mag vielleicht nicht neu sein, aber wenn die Idee mit besonderer Ausrüstung und Film umgesetzt wird, entstehen dennoch faszinierende Fotos, die einen in ihren Bann ziehen. Eine eigentlich totfotografierte Stadt plus ein von anderen auch umgesetztes Konzept vereinen sich in den Bildern Christopher Thomas‘ so zu Motiven, derer man nicht nur nicht müde wird, man möchte sie sammeln.

Brooklyn Bridge - (c) Christopher Thomas

Brooklyn Bridge – (c) Christopher Thomas

„I want to wake up in a city
That never sleeps“

~ Frank Sinatra, „New York, New York“

Jeder, der schon einmal in New York City war, weiß, daß diese Stadt tatsächlich irgendwie nie zur Ruhe kommt. Der Verkehr hört nie auf, und wenn einen nach einer langen Nacht morgens um 3 Uhr noch einmal der Hunger packt, findet man irgendwo irgendein Geschäft, das offen hat.

[buchrezensiontabelle 9783791342344]Rund um die Uhr Aktivität, überall Menschen (und vor allem auch Touristen), 24/7. Umso erstaunter war ich, die Fotos von Christopher Thomas zu sehen, die die Stadt in einem vollkommen anderen Licht zeigen, denn auf keinem einzigen dieser Bilder sind Leute zu sehen – nicht einmal auf der Brooklyn Bridge und an anderen Orten, wo man auch zu den unmöglichsten Zeiten noch überrannt wird. Es ist vielleicht kein einmalig neues Konzept, aber es ist einmalig umgesetzt.

Die Aufnahmen in [amazon 3791342347]“New York Sleeps“[/amazon] wurden ursprünglich mit einer Linhof Technika auf Polaroid 55 Film gemacht. Für diejenigen, die mit diesem Equipment nicht vertraut sind: allein die Kamera ist etwas Besonderes, hat sie sich doch in all den Jahren seit ihrer „Geburt“ einen gewissen Kultstatus erarbeitet (für knapp €5.000 ist sie allerdings nicht unbedingt für den normalsterblichen Hausgebrauch). Der verwendete Polaroid 55 ist ein Sofortbildfilm im Format 4×5, der sowohl ein Positiv, als auch ein Negativ liefert. Der Film, eigentlich 2008 von Polaroid eingestellt, hat vor kurzem eine Wiederauflage erfahren, ist jedoch mit $75 für 5 Aufnahmen NOCH teurer als Impossible Project Film. Zumindest hat jemand das Format gerettet, und wenn man sieht, was in den Händen eines Künstlers wie Christopher Thomas damit entsteht, wärmt es einem Liebhaber von Kunstfotografie regelrecht das Herz.

Alle in diesem Buch enthaltenen Aufnahmen wurden von 2001 bis 2009 gemacht, also noch mit dem ursprünglichen Polaroid 55 Film. Man sieht bekannte und nicht so bekannte Motive in und um Manhattan, von der Brooklyn Bridge über Coney Island zum Hoboken Terminal. Und sie haben, wie eingangs erwähnt, allesamt eines gemeinsam: obwohl es nicht in allen wirklich Nacht ist, sind nirgendwo irgendwelche Menschen zu sehen.

View from Weehawken - (c) Christopher Thomas

View from Weehawken – (c) Christopher Thomas

Broome Street - (c) Christopher Thomas

Broome Street – (c) Christopher Thomas

Bowling Green - (c) Christopher Thomas

Bowling Green – (c) Christopher Thomas

Radio City Music Hall - (c) Christopher Thomas

Radio City Music Hall – (c) Christopher Thomas

Der Betrachter konzentriert sich also auf die Bauwerke selbst, und nicht auf das wimmelnde Durcheinander, das einem sonst auf Abbildungen von NYC geboten wird. Plötzlich fällt einem auf, wie die Stadt eigentlich aussieht; was sonst nur Komparse ist wird Hauptfigur: die Stadt selbst, ihre Gebäude, ihre Wahrzeichen. Immer noch irgendwie schmuddelig an manchen Orten, aber auch majestätisch und architektonisch reizvoll und interessant. Katz’s Deli, Central Park, das Guggenheim, alle stilisiert eingefroren. Und man fragt sich unwillkürlich, mit ein klein bischen Neid in der Stimme: wie hat er das so hinbekommen? Lucie & Simon benutzten für „Silent World“ einen speziellen Graufilter, der ursprünglich für die NASA entwickelt wurde. Mit diesem kann man auch tagsüber extrem lange Aufnahmen machen, in denen dann zwangsläufig alles, was sich bewegt, optisch „ausradiert“ wird, und ich nehme an, Thomas hat für „New York Sleeps“ mit etwas ähnlichem gearbeitet.

Wie sie auch immer entstanden sind: diese hochkontrastigen Aufnahmen sind zu Recht Teil von namhaften Sammlungen geworden, und jetzt habe ich nur ein Problem (abgesehen davon, dass ich mir die daraus entstandenen Prints nicht leisten kann): ich will jetzt auch die anderen Stadtporträts von Christopher Thomas in die Finger bekommen.

Über den Autor: Christopher Thomas, geboren 1961 in München und Absolvent der Bayerischen Staatslehranstalt für Fotografie, hat eine Anzahl internationaler Preise als Profifotograf gewonnen. Seine Fotoreportagen erschienen in Zeitschrifen wie Geo, Süddeutsche Zeitung Magazin, Stern und Merian.

Als Künstler hat sich Christopher Thomas einen Ruf vor allem durch seine Stadtporträts geschaffen. Die erste dieser Cityscapes war „Munich Elegies“, welche 2005 im Münchner Fotografiemuseum gezeigt wurde (veröffentlicht von Schirmer/Mosel 2005). Dieser folgte „New York Sleeps“, woran er zwischen 2001 und 2009 arbeitete. Das Begleitbuch, „New York Sleeps. Photographs by Christopher Thomas“ wurde 2009 von Prestel erstmals veröffentlicht (6. Ausgabe 2012) und erhielt den Deutschen Fotobuch Preis.

Central Park - (c) Christopher Thomas

Central Park – (c) Christopher Thomas

View from Rockefeller Center - (c) Christopher Thomas

View from Rockefeller Center – (c) Christopher Thomas

[buchrezension]

5 Kommentare
  1. dierk
    dierk sagte:

    auch von mir vielen Dank für diesen Buch- und Fotografen Hinweis!
    Die Bilder von ihm sind absolut traumhaft, ich kann nur empfehlen, sich weitere auf seiner Website anzusehen.

    Andererseits ist es aber auch für mich teuer geworden :-( und aber auch :-)
    Ich bin schon seit 2014 an dem New55 Projekt aber es hat ewig gedauert, bis die Filme verfügbar wurden – und dann sind sie erheblich teurer geworden als vorher angekündigt. Ich hatte mir damals sofort einen Polaroid 545i Filmhalter gekauft mch aber bisher nicht durchringen können für diese „Investition“. Meine Sinar und Gandolfi sind sicher auch schon ganz aufgeregt :-)

    Nach einer Anfrage bei New55 haben die mir eben zwei Anbieter in Deutschland genannt (fotoimpex und macodirekt), die den Film anbieten – 5 Blatt für 79€ :-(
    So habe ich den eben eine Packung mit dem zugehörigen Ilford Fixierer (so etwas habe ich schon ewig nicht mehr) bestellt und kann es kaum erwarten.

    Antworten
    • Sofie Dittmann
      Sofie Dittmann sagte:

      Die Kosten sind das, was mich momentan absolut davon abhalten würde. Ich schau mir dann lieber Deine Fotos an, sobald es sie gibt, und stelle mir vor, was wäre wenn – der Amerikaner nennt das „living vicariously through somebody else“ (zu Deutsch etwa, „stellvertretend durch jemand anderen leben“).

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