Buchrezension «Stillleben BRD»: Was vom Leben übrig bleibt

Ein visuelles Memento Mori und fotografische Bestandsaufnahme eines Daseins. Bilder aus der DDR

Fotografien aus der Kultur der DDR

Stillleben BRD: Giesskanne

Christian Werner hat auf Anregung eines Freundes nach dem Tod von dessen Großvater 2014 das Haus desselben fotografiert. Es sollte eine Bestandsaufnahme seines Lebens (und dem seiner Frau) werden – und kurz darauf war das Haus auch schon ausgeräumt. [amazon 3735602037]“Stillleben BRD – Inventur des Hauses von Herrn und Frau B.”[/amazon] beruht auf einer Ausstellung des Kunstpalais Erlangen, die vom 23.1.2016 bis zum 3.4.2016 dort zu sehen ist. Es handelt sich also um den Ausstellungskatalog, geht aber weit darüber hinaus. Als die Mutter einer Freundin vor ein paar Jahren in einem Altersheim starb, oblag es natürlich ihrer Tochter, ihre letzten Habseligkeiten abzuholen. Sie sagte später zu mir, es sei schon traurig, daß das Leben eines Menschen letztlich in zwei Boxen paßt. Das Haus der Eltern war da schon längst verkauft. Welch einen anderen Einblick bekommt man hier.

(c) Christian Werner/Kerber

(c) Christian Werner/Kerber

Das Inventar, das Werner aufnahm, ist selbstverständlich nicht streng als solches zu verstehen, denn es ist nicht vollständig – von manchen Gegenständen oder Raumteilen gibt es mehrere Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven, von manchen keine. Was so spontan wirkt, ist in Wahrheit höchst selektiv. Werners Stil ist realistisch, teilweise schon fast abstrakt. Festgehalten sind die Räume mit einer Art Polizeifotoästhetik – harter Blitz, scheinbar im Vorbeigehen, und von keinem Raum entsteht ein vollständiges Bild.

[buchrezensiontabelle 9783735602039 rechts]Aber dafür auf einer tieferen Ebene von den Bewohnern dieses Hauses. Es sieht aus, als seien sie nur kurz weggegangen. Auf einem Tisch liegt sogar noch eine Frauenbrille – die von Frau B. vielleicht, obwohl sie vor ihrem Mann starb.

Zu sehen sind verschiedene Einrichtungsgegenstände, Hausrat und Kleinkram, und alles scheint irgendwo in den Sechziger- und Siebzigerjahren stehen geblieben zu sein. Allein die orangefarbenen Vorhänge im Keller und das Kacheldesign im Bad schicken den Betrachter auf eine Zeitreise. Daß das Haus in dieser Hinsicht in einem Dornröschenschlaf war, verstehe ich sehr gut. Menschen, die in den Nachkriegsjahren groß geworden sind, haben einfach nicht dasselbe Wegwerfverhältnis zu Gebrauchsgegenständen, wie alle, die nach ihnen kamen.

Als Deutschland noch die BRD war

Werners Arbeit spiegelt eine Zeit wider, in der die Bundesrepublik noch BRD hieß, es auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs noch ein zweites Deutschland gab. Eine Zeit, die viele von uns nicht miterlebt haben.

Im besten Fall sollten Fotos zum Nachdenken anregen, beim Betrachter irgendwelche Gefühle auslösen. Diese tun es. Ich war auch schon in diesem Haus, es ist auch das Haus meiner Großeltern, und ich kann mir sogar vorstellen, wie es dort roch.

Abgerundet wird das Buch durch ein Vorwort und einleitende Gedanken, sowie am Ende von mehreren Essays, die durch Fotos in der Werkgruppe inspiriert wurden, beispielsweise über jenen Partykeller mit den orangefarbenen Vorhängen.

(c) Christian Werner/Kerber

(c) Christian Werner/Kerber

Ein gelungenes Ganzes

Das erste, was mir beim Betrachten einfiel, waren die Namen Josef Sudek und Jacob Holdt. Ersterer, weil seine Stillleben häufig die Vergänglichkeit des Alltagslebens und von Alltagsgegenständen einfingen, wenn sie auch meist nicht situationell waren, wie die Werners. Letzterer, weil seine Schnappschüsse von Amerika in den Siebziger Jahren die gleiche unbarmherzige Ausstrahlung haben, allerdings mit Beteiligten, die die B.s niemals ins Haus gelassen hätten.

Von welcher Warte man es auch immer betrachtet, Christian Werners Arbeit und die damit verbundenen Texte schließen sich zu einem insgesamt gelungenen Ganzen zusammen, und Fans realistischer Fotografie werden voll auf ihre Kosten kommen.

(c) Christian Werner/Kerber

(c) Christian Werner/Kerber

 

Über den Autor: Christian Werner lebt als freier Fotograf in Berlin und veröffentlicht neben seinen fotografischen Essays auch regelmäßig Arbeiten aus dem Reportage- und Porträtbereich in Magazinen und Zeitungen (ZEITmagazin, Spex, Interview, 032c, NEON, Spiegel, Welt am Sonntag).

[buchrezension]

5 Kommentare
  1. Rolf Meier
    Rolf Meier sagte:

    Vielen Dank für diese hervorragende Rezension. Sie weist auf ein Werk hin, das ins Zentrum dessen zielt, was mich an der Fotografie in erster Linie interessiert. Das Buch wird mich beflügeln in der Auseinandersetzung mit einem ähnlichen Projekt, das ich schon eine ganze Weile im Kopf trage. Aufgrund dieser Buchbesprechung bin ich überzeugt, dass ich das Buch mit grossem Gewinn anschauen und lesen werde.
    Schöne Grüsse aus Zürich

    Antworten
  2. Jürgen
    Jürgen sagte:

    Hallo Sofie,

    Danke schön für den guten Tipp. Ich mag a. Fotobücher über alles, vor Allem aber b. diese Form der Fotografie, die hier ausgestellt / im Katalog präsentiert wird.

    Ja, es hat etwas dokumentarisches, und wenn man Fotografie nur aus dem Index heraus versteht, so sind’s natürlich nur die Gegenstände und Räume, die hier abgebildet werden. Aber ich glaube es ist deutlich mehr. Es sind Fotos, die als Sonde wirken. Eine Sonde, die in unserer Wahrnehmungssphäre unsere Erinnerungen, Gefühle und vielleicht auch konstruierte Erwartungen abruft. Du hast das sehr schön damit beschrieben, dass Du die Räume förmlich riechen kannst.

    Das ist das besondere an der Fotografie: dass sie aus ihrem (vermeintlichen) „ich bilde eine vergangene Realität ab“ sehr tief in unser Erinnern und Fühlen eindringen kann. In meinen Augen unterscheidet sie genau das von vielen anderen künstlerischen Formen, die nicht ganz so unmittelbar (weil eben klar ist, dass sie keine unmittelbare Realität darstellen) an uns herankommen.
    Ich werde mir den Band auf jeden Fall mal genauer ansehen.

    Schöne Grüße aus Berlin
    Jürgen

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