Das Rettungsboot: Grenzgang

Richtig eingesetzt, kann die andere Sichtweise der Kamera Abstraktionen liefern, die wir selber nicht sehen würden. Dabei kommt es auf die Dosierung an.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Christian Kreutzmann).

Kommentar des Fotografen:

Das Bild zeigt ein Rettungsboot an einem großen Schiff. Die Aufnahme gefällt mir persönlich sehr gut, doch meinten meine Kritiker (Freunde und Bekannte, dass das Bild durch die vorhandene Überbelichtung „zerstört“ wird und die Metallschiene rechts nur stört.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Christian Kreutzmann:

In diesem Hochkant-Farbbild ist ein oranges Rettungsboot an einem Ozeandampfer zu sehen. Wir blicken offensichtlich von oben auf das Kunststoffboot, das an leicht angerosteten weissen Stahlträgern zu hängen scheint, die sich vertikal durch die rechte Hälfte des Bildes ziehen. Zwei Drittel der linken Bildhälfte sind Wasser, das in der Bewegungsunschärfe einer verhältnismässig langen Verschlusszeit zu einer verwischten Fläche wird, in der sich die Bugwelle des Schiffes mit noch höherer Geschwindigkeit als weisser Fächer nach unten öffnet.

Abstraktion ist keine feste Grösse:

Der Grad der Distanzierung vom individuellen bildlichen Gegenstand und seine Überführung in etwas anderes, allgemeineres kann verschiedene Stufen annehmen. Deine Aufnahme fasziniert, weil sie auf der Grenze zwischen den beiden Sichtweisen liegt.

Es ist eindeutig erkennbar, was wir hier im Bild sehen – zumindest für jeden, der schon mal auf einem Schiff war und ungefähre Ahnungen hat, wie Rettungsboote heutzutage aussehen. Gleichzeitig aber ist auch sofort klar, dass dies kein Bild eines Rettungsbootes ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob Du die Aufnahme so beabsichtigt hast oder ob es ein Versehen oder ein Zufall war: Die Fotografie zeigt einen Gegenstand und eine Situation, löst aber beim Betrachter nicht den Eindruck aus, einen Gegenstand gezeigt zu bekommen.

Das hebt die Aufnahme ab von den vielen zufälligen Schnappschüssen ohne erkennbaren Inhalt, die nett anzuschauen sind und deswegen von ihren Urhebern flugs als „Abstraktion“ herumgezeigt werden. Die Abstraktion, der Schritt zurück vom Gegenständlichen, setzt einen Prozess voraus und muss meiner Ansicht nach vom Betrachter als solcher erkennbar werden oder sogar weiterwirken.

Diese Aufnahme schafft das, weil sie erkennbare Gegenständlichkeit ganz offensichtlich in einer anderen Absicht als der Dokumentation zeigt.

Ihre Spannung geht nicht so sehr von der Verfremdung aus, als von der Reduktion auf zwei Dinge: Bewegung und Farbwiderspruch. Zum einen wissen wir, dass wir uns auf einem sich relativ schnell bewegenden Schiff befinden – aber das Schiff steht im Bild still, das Wasser daneben scheint sich zu bewegen. Die relative Empfindung der Bewegung ist ein Anstoss, eine Abstraktion des Bildes.

Ferner sind das Orange des Rettungsbootes und das Blau des Wassers komplementärfarben, die wir grundsätzlich spannend finden (was wohl auch der Grund für die Bemalung der Rettungsboote ist), und schliesslich schafft der Durchblick durch den weissen Stahlträger hinab aufs nächste Deck, die wenigen, noch erhaschbaren Details im rechten Bildteil, ein Guckloch in die Realität der konkreten Dinge und weckt ausreichend Neugier, um eine zweite Inhaltsebene des Bildes zu eröffnen, die wir erkunden können.

Dass das Dach des Rettungsbootes an einer Stelle ausbrennt, finde ich unproblematisch und zur Lichtstimmung an einem Abend auf See passend.

Der Stahlträger rechts dagegen ist absolut wesentlich für die Qualität des Bildes. Es „aufzuräumen“ hiesse, ihm die Spannung und den Widerspruch zu nehmen, es hiesse, dem schmalen Grat zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, auf den Du den Bildbetrachter schickst, mit dem Vorschlaghammer die Kante wegzuhauen. Das würde das Bild meiner Ansicht nach zerstören. Übrigens haftet Bildern wie diesen leider immer ein bisschen der Verdacht des „Zufalls“ an. Ihre Wirkung wird exponentiell verstärkt in einem Portfolio oder einer Serie von Bildern im ähnlichen Stil (und von ähnlicher Stärke – was das Problem jedes Portfolioaufbaus ist…)

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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2 Kommentare
  1. Christian Kreutzmann
    Christian Kreutzmann sagte:

    1000 Dank fuer die Kritik!!!

    So langsam aergere ich mich, dass ich die meisten Bilder, in diesem Stil, nach Kritik durch meine Mitmenschen, geloescht habe…

    Aber nunja die naechste Fototour kommt bestimmt.

    Mit freundlichen Gruessen

    Christian Kreutzmann

    Antworten
    • Peter Sennhauser
      Peter Sennhauser sagte:

      Ja, über das Löschen würde ich mich ärgern. Hier noch ein Tipp: Lösche nichts, was nicht eindeutig technisch unbrauchbar ist.

      Speicherplatz ist billiger denn je, und in Profi-Verwaltungssoftware wie Lightroom kann man Fotos batchweise mit Schlagwörtern versehen und dann „stapeln“, damit sie die Übersicht nicht zukleistern.

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