Der alte Zaun: Der Zauber des Ortes

Die Faszination einer Örtlichkeit kann selten mit einer „Abbildung“ ausgedrückt werden. Sie verlangt nach einer kreativen statt einer technischen Annäherung.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Matthias Kodym).Kommentar des Fotografen:

Der Wiener Südbahnhof wird in einem riesigen Bauprojekt zu einem Hauptbahnhof um und ausgebaut. Daher verschwinden im Kilometerumkreis sämtliche Einrichtungen um dem neuen Projekt Platz zu machen. Auf einer Tour im Abrissgebiet bin ich auf diese Szene gestossen. Ich war fasziniert von diesem alten Holzzaun mitten in der Stadt, dem leeren Platz und dem dramatischen Himmel. Kurzerhand hab ich mich um den Helligkeitsunterschied auszugleichen für ein HDR (mein erstes) entschieden, aufgenommen mit voller Belichtungsreihe der Nikon D300.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Matthias Matthias Kodym:

Es sind kleine Dinge, die vielfach den Zauber eines Ortes ausmachen. An Baustellen sind es häufig die Überreste der Vergangenheit gleich neben den Löchern, aus denen die Zukunft wachsen soll. Du wolltest in Deinem Bild den Zaun vor dem seltsam leeren Platz im Stadtzentrum und unter dem dramatischen Himmel als solches Mahnmal der Vergangenheit würdigen. Das ist Dir aus verschiedenen Gründen nur teilweise gelungen:

Du hast versucht, den Zaun ins Zentrum zu rücken und den leeren Platz sowie den Himmel als Raumelemente für seine verlorene Position mitten in der Stadt einzusetzen. Das ist ein anspruchsvolles Unterfangen.

Es scheitert vor allem an einem zentralen Punkt. Du wolltest eigentlich den Zauber dieses Ortes einfangen – und nicht die Elemente abbilden, die ihn ausmachen. Das ist ein wesentlicher Unterschied, und wir begehen alle häufig den Fehler, dass wir Stimmung und Gefühl eines Ortes mit der Summe der vorhandenen Dinge verwechseln. Dadurch entstehen häufig „Abbildungen“, in denen diese Dinge zu zusammenhanglosen Statisten verkommen und das Gefühl auf der Strecke bleibt.

Zunächst erweckt das Bild nicht den Eindruck, dass es mitten im Stadtzentrum entstanden ist, sondern es wirkt wie ein abrupter Stadtrand. dadurch wird die von Dir angestrebte Bildaussage verwässert; die Komposition hilft nicht weiter. Der HDR-Effekt hat zwar funktioniert, sorgt aber erstens für diese typische Tonwert-Kompression mit sehr eigenartigen Farben, welche die Erwartung wecken, dass hier noch etwas zu finden sei, was wir dann aber nicht entdecken können.

Der Zaun ist zwar eindeutig als Bildeelement eingesetzt, du bist sogar ein bisschen in die Knie gegangen – aber so wirklich, richtig mit den ganzen Konsequenzen hast Du den Perspektivwechsel nicht gewagt. Das führt leider dazu, dass die Häuser im Hintergrund ins Bildzentrum rücken und zum vermeintlichen Fokuspunkt werden – dabei sind sie die eigentlichen Statisten, die nur am Rand von Bedeutung sind. Weil sie ihre Rolle nicht richtig spielen, ist der leere Platz zur Linken nicht als Loch in der Stadt erkennbar; es könnte sich auch um die Ebene an der Stadtgrenze handeln, weil die Begrenzung zur linken Seite hin fehlt. Die Linie des Zauns schliesslich führt nicht zu einem interessanten Bildteil, sondern nach rechts in den Krimskrams des Hintergrunds, während die Linien des Himmels ihrerseits auf die Häuserzeile in der Bildmitte deuten.

Ich denke, das alles hat ein bisschen damit zu tun, dass Du zuviel auf einmal wolltest (wie es uns allen häufig passiert). Der Weitwinkel war eine richtige Entscheidung, wenn es Dir um die „Einsamkeit“ des Zauns in der Wüste der Baustelle ging. Diese dann zusätzlich in die Stadt hinein zu bringen, das setzt die Anforderungen deutlich höher. Umgekehrt wäre es mit Tele und offener Blende einfacher gewesen, den Zaun als Relikt in der Stadt (vor unscharfem Stadthintergrund, mit Fassadenreihe und Baumaschinen etc) zu inszenieren. Dabei wäre aber der dramatische Himmel auf der Strecke geblieben. In jedem Fall hättest Du für den Ausdruck des Gefühls des Ortes wohl einige seiner Elemente opfern müssen.

A propos Himmel. Was mir hier sofort auffällt, ist die Zweiteilung des Bildes durch den Horizont. Das ist die typische und am wenigsten spannende Bildeinteilung, und sie ist extrem schwer zu überwinden. Die Erfahrung habe ich im Death Valley mit vielen weiteren gemacht: Der Blick durch den Sucher lässt uns ganz natürlich das Bild zweiteilen – grade, wenn der Himmel etwas besonderes bietet, häufig aber sogar dann, wenn er unansehnlich oder einfach langweilig blau ist. (Wers nicht glaubt, soll gleich jetzt mal rausgehen und irgendwas mit Normal- oder Weitwinkelobjektiv komponieren – und dann versuchen, den Horizont in den goldenen Schnitt oder auf ein- oder zwei Drittel anzusetzen, oben oder unten. In der bewussten Übung mag das hinhauen; spätestens dann, wenn man bereits ein Motiv gefunden hat, fällt man blitzschnell zurück in die halbe/halbe-Aufteilung.)

Ich glaube, Dein Bild hätte gewonnen, wenn Du etwas geopfert hättest – vielleicht den leeren Platz, den man bei einer andern Perspektive nicht mehr gesehen, dafür aber gespürt hätte. Oder gar die Häuserzeile und den Himmel, was dem Zaun den vollen Auftritt verschafft hätte. Du wolltest die überwucherte Strasse rechts im Bild haben, was ich für richtig halte – wesentlicher, als Himmel, Platz und Häuserreihe. Ich bin ziemlich sicher, dass mit der Konzentration auf Zaun und Wucherung und eine radikale Perspektive – noch näher an den Zaun, von unten oder von höher oben (Klappleiter!) etc. eine Komposition zu finden wäre, welche nicht nur den Zaun als eigentliches Motiv, sondern auch noch den Stadteindruck verstärkt.

Was die High-Dynamic-Range-Technik angeht (HDR), die Du verwandt hast, habe ich ein wenig den Verdacht, dass sie Dich von der Bildgestaltung abgelenkt hat.

Die nötige Abdunkelung des Himmels wäre mit einem einfachen Grauverlaufs-Filter in einer einzigen Aufnahme einfacher und besser zu bewerkstelligen gewesen. Das gilt immer da, wo ausschliesslich ein greller Himmel bei einigermassen gradlinigem Verlauf des Horizonts die Dynamik sprengt.

Den vollen Bracketing-Umfang der Nikon D300 auszunutzen (9 Frames, jeweils vier über und unter dem Hauptbild mit frei wählbarer Blendendifferenz) ist hier ein totaler Overkill. Mit drei Bildern und einer Blendenstufe Unterschied fängst Du die Helligkeitsstufen fast jeder Situation vollumfänglich ein. Das geht bei der D300 ausserdem dank der hohen Geschwindigkeit von 8 Bildern pro Sekunde leicht aus der Hand. Aber auch dabei gilt: Die Rechnerei danach am PC und die farblich eigenartigen Bilder sind dem Zücken des einige Euro billigen Grauverlaufsfilters eindeutig unterlegen.

Du hast den Zauber des Ortes gefunden, Dich dann aber auf halbem Weg zum Bild von der Technik ablenken lassen.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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9 Kommentare
  1. Stefan
    Stefan sagte:

    Hi Peter!

    Eine Diskussion finde ich auch klasse, bestätigt es dem Bild doch ein gewisse Interessantheit – es versteht, zumindest zu polarisieren!

    Ich stimme ja mit Dir überein, dass das Thema verfehlt wurde, aber muss ein Bild voranging ein Thema treffen? Ich meine Nein, da Fotografie eine visuelle Kunst ist und in erster Linie den Rezipienten fangen und gefallen muss. Wenn der Betrachter dann im Bild quasi umherwandert, verschiedenste Dinge assoziiert (Strand, Tunesien), dann ist es ein gutes Bild. Ich bin mir hier nicht mal sicher, ob die Absicht lt. Beschreibung VOR oder eher NACH dem Bild entstanden ist (das hatten wir hier glaube ich schon mal).

    Ein Bild wirken zu lassen, ist natürlich subjektiv, kann aber durch ein geschultes, technisches Auge auch objektiv sein. Beispiel: Ein Sonnenuntergang am Meer mit schiefem Horizont. Subjektiv gefällt einem die Stimmung, technisch-objektiv ist das Bild aber durch den schiefen Horizont vermurxt… Also denke ich, man kann ein Bild trotzdem mal wirken lassen und es sowohl subjektiv und technisch-objektiv bewerten.

    Zu meine Vorrednern: Den Einheitsbrei kann ich nur bedingt nachvollziehen. Der Himmel scheint diffuses Licht zu geben und denke ich an einen Tunesischen Strand, dann passt Farb- also auch Lichtgebung ;-)

    Liebe Grüße,
    Stefan

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  2. Peter Sennhauser
    Peter Sennhauser sagte:

    Ha! Endlich wir mal diskutiert…!

    @Stefan: ich verbeisse mich nicht an der Bildbeschreibung, sondern versuche, die Absicht des Fotografen nachträglich im Bildausdruck zu analysieren. Warum Du das als subjektiv empfindest, kann ich nicht nachvollziehen. Wenn Matthias die Einsamkeit des Zauns in der Stadt ausdrücken will, Du aber einen Strand siehst, ist ja was nicht so rausgekommen, wie es der Künstler geplant hat.

    Das Bild „wirken lassen“ und sich fragen, „ob es gefällt“ oder nicht, das ist subjektiv. (Mir gefallen alle Bilder, die ich bespreche.) Und das ist nicht, was die Bildkritik soll. Wenn ich mit einem Bild eine Absicht verfolge, dabei aber was ganz anderes rauskommt, ist es vielleicht ein Trost, wenn das Bild einer Mehrheit des Publikums dennoch gefällt. Aber der künstlerische Zweck ist damit nicht erfüllt: Es geht nicht um „schön“, es geht um einen Ausdruck, und zwar den subjektiven des Künstlers.

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  3. Pascal
    Pascal sagte:

    Da steig ich doch gleich auch noch mitein :)

    Also ich persönlich gebe Peter in vielen Punkten recht. Ich habe mir das Bild einige Zeit angesehen und wusste erst nicht recht, woran es liegt, dass es mich nicht anzieht.

    Zum einen bin ich kein Freund von HDR auch wenn es hier eher dezent eingesetzt wurde. Dieser schattenlose Einheitsbrei wie ihn Corinne bezeichnet (ja das kommt vom HDR) sowie die farbliche „Verunstaltung“ durch das Tonemapping, wirkten auf mich beim ersten Kontakt mit HDR unheimlich eindrucksvoll. Man sieht sich aber sehr schnell satt daran, zumindest ging es mir so.

    Zum anderen, und das hat auch Peter so festgehalten, gibt es kein eigentliches Subjekt im Bild. Alles bekommt die gleiche Gewichtung (Himmel, Häuserreihe, Zaun). Das macht es für mich so schwierig im Bild einen Haltepunkt zu finden, denn überall wo man hinschaut, hat man das Gefühl etwas wichtigeres zu verpassen.

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  4. Corinne ZS
    Corinne ZS sagte:

    Wenn Peter zur Diskussion bittet, helfen wir gerne:

    Mir fielen als erstes die Farben auf. Altrosa Haus und altrosa Dornen-Zweige (das ist mein farbliches Lieblingspaar im Bild), graugrüner Zaun und graue Häuser/grüne Pflanzen, goldgelbes Haus und goldgelbe Lichter am Himmel, brauner Boden unter braunen Wolken. Dazu kommt der Schwung dem Zaun entlang, der durch den kurzen hellen Streifen Boden darüber noch verstärkt wird. Und als weitere Linie die etwas wackelige Häuserreihe, die zwar gerade steht, aber doch an die etwas wackeligen Latten des Zaunes erinnert.

    Ich dachte übrigens an Tunesien.

    Der grösste Fehler des Bildes ist wahrscheinlich der Kommentar des Fotografen ;-)

    Trotzdem: Was mich stört, ist der Gegensatz zwischen hellem Leuchten am Himmel und schattenlosem Einheitsbrei-Licht im Rest des Bildes. Liegt das an HDR?

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  5. Stefan
    Stefan sagte:

    Hi Peter,

    Ich muss Dir auch mal ausnahmsweise widersprechen. Obwohl… Widerspruch ist vielleicht der falsche Terminus, Entkräften trifft’s wohl eher ;-)

    Die Kritik liest sich sehr subjektiv und scheint mir eine sehr gut begründete Interpretation und Auslegung des eigenen Geschmacks zu sein. Eine objektiv-technische Kritik ist es meiner Meinung nach jedenfalls nicht.

    Ich habe auch den Eindruck, Peter, dass Du Dich zu sehr an der Bildbeschreibung verbeißt, anstatt das Bild einfach mal ein paar Minuten wirken zu lassen.

    Ich zB. nahm beim ersten Betrachten sogar einen Strand war, und mir gefiel das Bild überaus gut! Das es ein HDR ist, fiel mir ob der schönen Linienführung und der Details auch erst später auf.

    Ich stimme mit Dir zu 100% überein, dass das Bild wenig mit der Beschreibung bzw. Intention zu tun hat – dennoch ist es ein wunderbares Bild geworden. Dem Fotografen sei ausserdem zu Gute gehalten, dass er HDR als Hilfsmittel und nicht als Effekt eingesetzt hat!

    Manchmal kommen sich visuelle und intellektuelle Eindrücke in die Quere und verbauen uns die Möglichkeit, sich einfach an schönen Bildern zu erfreuen!

    Lieben Gruß & nix für ungut,
    Stefan

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  6. Peter Sennhauser
    Peter Sennhauser sagte:

    @Matthias: Tut mir leid, ich kann nicht mehr als tendenzielle Aussagen machen, ohne vor Ort gewesen zu sein. Ich würde mich mehr auf den Zaun konzentrieren oder ihn nur noch als Vordergrund nutzen und dabei wahrscheinlich auf die Wucherung rechts verzichten.

    @Hansgerd: Aber bitte – Kritik soll widersprochen werden, sonst ergibt sich keine Diskussion! Nur zu den Farben: Die passen hier tatsächlich zufällig. Trotzdem stört mich daran, dass inzwischen alle (automatisch gemappten) HDR-Bilder sofort an der Mischung aus Sepia und Knallfarben als solche erkennbar sind.

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  7. Hansgerd Zappenduster
    Hansgerd Zappenduster sagte:

    Ich möchte dem Peter Sennhauser gar nicht widersprechen; vielleicht kann man es so sehen. Trotzdem finde ich, dass die Kritik dem Bild nicht gerecht wird. Ich halte es für eine ganz hervorragende Aufnahme, weil sie die Einsamkeit solcher Baustellen in bestimmten Momenten widerspiegelt. Dazu passen auch „die komischen Farben“, die in diesem Fall die Stimmung unterstützen. Hätte man die Häuserzeile geopfert wäre es doch nur wieder „Klischee“ geworden.

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