Digitale Kunst: Strassenpoesie

Fahles Licht und Menschenleere machen die Stimmung in diesem Bild, und für einmal unterstützt die digitale Verfremdung die offensichtlichen Stärken der Aufnahme.

[textad]Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Johanna Zimmer).

Kommentar der Fotografin:

Wohin er auch geht, es folgen ihm Schatten – die Straßen entlang, gefolgt von den Ratten – Frei nur im Geiste und egal was er braucht – alles was er hatte, löst sich in Rauch – Nachts liegt er auf Stufen, kalt ist ihm auch – nichts mehr zu essen, Hunger im Bauch – Wo soll er bloß hin, er findet keinen Ort – ‚Vergessen‘ ist und war sein allerletztes Wort

Profi Stuart Schwartz meint zum Bild von Johanna Zimmer:

Ein postmodern-futuristisches Backsteingebäude in bläulichem Grau. Von rechts schiebt sich eine mit an Schiessscharten mahnenden Fensterlinien durchzogene Fassade in den Bildvordergrund, die mit abgerundeter Ecke in einen Backsteinklotz übergeht.

Der Bildbetrachter blickt schräg auf diese linke Kante des Bauwerks, in dem sich gleich hinter der Fassade eine von der Strasse bis zur Bildkante oben reichende Kluft auftut. In dieser Treppenhausschlucht kann, bei genauem Hinsehen, eine Person vermutet werden, obwohlsie nicht sichtbar ist. Am Fusse der Treppe stehen an der abgerundeten Ecke des Gebäudes zwei völlig mit Plastiksäcken überladene Einkaufswagen. Die Aufnahme ist mit einem fake tilt-shift-Effekt versehen und verläuft in zunehmendem Abstand vom zentralen Motiv des Einkaufswagen in monochrome Kontrastarmut.

Dieses Bild ist ein echter Blickfang. Seine Wirkung beruht auf verschiedenen Dingen, und auch ohne die Bearbeitung würde die Fotografie Aufmerksamkeit erregen. Es gibt im Bild einen eindeutigen Fokus und ein Subjekt, das provokativ und augenfällig zugleich ist – eine substantielle Notwendigkeit für jedes Bild.

Die Aufnahme stellt Fragen: Wo ist die Person, der all diese Dinge gehören? Warum stehen sie verlassen auf der Strasse?

Die Komposition ist gelungen: Du hats die Geometrie des Gebäudes benutzt, um die Blicke auf das Subjekt zu ziehen. Der Treppenzugang ist dabei ein erster vertikaler Vektor zum Motiv; Die Basis des Gebäudes und die Kante des Gehsteigs ziehen unsere Blicke ebenfalls zum Einkaufswagen.

Weil die Aufnahme an einem bedeckten Tag entstanden sein dürfte, ist das Licht sehr stumpf. Auch wenn wir uns immer das beste Licht wünschen, das Klarheit und Schatten bietet und sowohl dem Gebäude als auch dem Einkaufswagen maximale Zeichnung verleiht – hier arbeitet das extrem weiche Licht Dir in die Hände, indem es eine eigene Stimmung schafft und sie zur Kälte eines nördlichen Herbsts oder Winters werden lässt.

Der zweite und fast gleich wirksame Wirkungspunkt des Bildes ist die digitale Verfremdung. Fast immer wird die Nachbearbeitung als Krücke missbraucht, um Aufnahmen ohne ausreichende Wirkung hochzuspielen. Hier allerdings dient die Manipulation als Steigerung der Stärken der Aufnahme. Der Verlauf der Farbe vom Objekt zu den Bildrändern hin ins Monochrome ist provokativ, aber subtil genug, um nicht abzulenken.

Stuart's VersionBemerkenswert ist der pseudo-Filmrand im ungefähren 6×6-Design, und der fast quadratische Ausschnitt funktioniert in dieser Komposition sehr gut. Würde man nach der besten Beschneidungsversion suchen, dann wäre es die hier gezeigte – uasserdem würde ich den Kontrast erhöhen.

Dies ist ein starkes Bild, zu dem ich der Fotoigrafin gratulieren möchte.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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5 Kommentare
  1. Capitansky
    Capitansky sagte:

    Swonkie,
    ich stimme dir ja prinzipiell vollkommen zu!
    Wie du ja auch richtig sagst, ist ueberhaupt garnicht bekannt, ob und wenn ja wie hier „kreativ-Filter“ benutzt wurden. Die Wahrscheinlichkeit, das vorgefertigte Photoshop-Aktionen auf ein x-beliebiges Bild passt, duerfte gegen 0 gehen.
    Allerdings, und damit moechte ich mich von dieser scheinbaren „Meinungsverschiedenheit“ entfernen, sollte auch beachtet werden, wie das Bild ohne die Bearbeitung aussieht. Denn allzu oft wird ja Bildbearbeitung als „Kruecke“ verwendet, um Dinge zu betonen, die garnicht vorhanden sind.
    Andererseits, wie oben schon erwaehnt, handelt es sich um ein Handyphoto, bei dem man wohl davon ausgehen kann/muss, dass die Qualitaet grundsaetzlich nicht die beste ist, wodurch eine starke Bearbeitung fast schon gerechtfertigt wird.
    Wie diese nun im Detail aussieht ist sicherlich diskutabel. Meiner Meinung nach stoert der Unschaerfeverlauf doch arg, da er einfach nicht intuitiv, oder besser, so nicht auftreten kann.
    Von einem Tilt-shift effekt, wie im Artikel beschrieben, kann hier sicherlich ebenfalls nicht die Rede sein.

    Gruesse!

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  2. Capitansky
    Capitansky sagte:

    Zu Swonkie:

    ob man sog. „kreativ-Filter“ nun herunterladen kann oder diesen Effekt selbst erzielt, tut meiner Meinung nach ueberhaupt nichts zur Sache. Was zaehlt, ist, dass der Effekt, der erzielt wird, passt, was hier meines Erachtens nach gelungen ist.
    Interessant finde ich jedoch, dass nicht erwaehnt wurde, und das war bei mir die allererste Assoziation, dass das spaeter als Einkaufswagen mit Plastiksaecken identifizierten Subjekt des Bildes wie ein riesig grosser Blumenstrauss wirken, was meiner Meinung nach die Bildpannung um einiges steigert.
    Ebenfalls interessant, dass keine (anti-?)Parallelen zu dem neuesten Bild der Kritik „Unscharfer Schnappschuss“ gezogen wurde. Waehrend bei letzterem „professinelles“ Equipment verwendet wurde und trotzdem keine starkes Bild erreicht wurde, wurde hier ein Handy verwendet, mit einem sehr viel ansprechenderem Ergebnis.
    Wieder einmal: Der Sieg des Auges ueber die Technik.

    Antworten
    • Swonkie
      Swonkie sagte:

      ob man sog. “kreativ-Filter” nun herunterladen kann oder diesen Effekt selbst erzielt, tut meiner Meinung nach ueberhaupt nichts zur Sache. Was zaehlt, ist, dass der Effekt, der erzielt wird, passt, was hier meines Erachtens nach gelungen ist.

      der springende punkt ist nicht dass man den filter runterladen kann, sondern dass das bild den eindruck erweckt, dass ein fixfertiger filter angewendet wurde.
      falls es wirklich mal eine situation geben sollte wo filter X, der von einer anderen person für eine andere situation erstellt wurde, genau auf mein bild passt, kann man das natürlich benutzen. aber normalerweise ist bildbearbeitung ein iterativer prozess wo man erst das offensichtliche macht und sich dann weitertastet in die richtung die man sucht – mit vielen versuchen und irrtümern. wenn man einen filter anwendet der sieben sachen auf einmal macht und dann sagt genau so muss das bild sein, fällt mir das schwer zu glauben.

      (ja die fotografin hat das vielleicht garnicht so gemacht, das ist hier nur eine antwort auf capitanskys verdrehung meiner aussage.)

  3. Swonkie
    Swonkie sagte:

    keine ahnung wie man hier fake-tilt-shift erwähnen kann. was meiner meinung nach hier gemacht wurde ist eine runde selektion mit weich verfliessendem rand. alles ausserhalb dieses zentrums wurde s/w gemacht und weichgezeichnet.
    ausserdem wurden wohl die plastiksäcke auch s/w gemacht oder sogar das ganze bild und danach von hand wieder farbe in bestimmte bereiche zurückgebracht.

    ich finde das wäre ein starkes bild ohne die übertriebene verfremdung. so wirkt es als ob einfach einer dieser „kreativ-filter“ angewendet wurde die man runterladen kann.

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  4. sommerlinde
    sommerlinde sagte:

    Ich gebe Stuart Schwartz recht, das Foto ist ein echter Blickfang, auch für mich. Und mein Kompliment an die Fotografin, denn bei den Lichtverhältnissen bei der Aufnahme ein solches Stimmungsbild hinzubekommen, ist wahrhaft nicht einfach.

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