Einführung in die Street Fotografie/Straßenfotografie – Teil 2/4: Muß Street kompositionell/technisch perfekt sein?

Nach meiner Begriffsbestimmung steht Perfektion nicht im Vordergrund. Viele Street Aufnahmen sind kompositionell und technisch perfekt, aber viele sind es eben nicht. Doch da sie die Zeit und den Ort so perfekt eingefangen haben, akzeptiert man es als Kompromiß.


Es existiert beispielsweise ein Foto von Helen Levitt von circa 1940, das einen kleinen Jungen und ein etwa gleichaltriges Mädchen beim Tanzen auf der Straße zeigt. Sie haben die Arme erhoben, selbstvergessen, und scheinbar nicht bemerkt, daß sie fotografiert wurden. Der kleine junge ist Afroamerikaner, das Mädchen weiß – und in einer Zeit, als es verpönt oder mancherorts gar verboten war, sich mit jemandem der anderen „Rasse“ abzugeben, ist das Foto deshalb noch bemerkenswerter. Es ist auch beim genauen Hinsehen etwas unscharf, aber sonst so perfekt eingefangen, daß diese Unschärfe dem Bild keinen Abbruch tut.

Wichtiger ist also, das Wesentliche von Ort und Zeit wiederzugeben. Irgendwo habe ich einmal einen Satz gelesen, der das Erlebnis, ein gutes Street Foto zu schießen, mit einem Jäger verglichen hat, der gerade einen prächtigen Hirsch mit dem ersten Pfeil erlegt hat. Man läuft irgendwo scheinbar ziellos durch eine Gegend, etwas fällt einem ins Auge, man wird davon angezogen, umkreist es ein paarmal, bleibt schließlich stehen, wartet und drückt auf den Auslöser. Die besten Streetfotografen beschäftigen sich mit dem Thema jahrelang (Helen Levitt war jahrzehntelang in New York City unterwegs), wie sich auch die besten Landschaftsfotografen auf Landschaften spezialisiert haben – diese Vertrautheit kommt notwendigerweise im Bild zum Ausdruck. Man bekommt ein Gefühl für Situationen.

Abschließend bleibt zu bemerken, daß ich selbst in keiner Großstadt wohne, und in amerikanischen Kleinstädten vielfach nicht genug Aktivität auf der Straße stattfindet, um Street zu schießen. Die angesprochene „Zen-ähnliche Vertrautheit“ kann auch entstehen, wenn man mit offenen Augen und Ohren durch einen Ort läuft, an dem man vorher noch nicht war, auf der Pirsch nach Eindrücken. Um es mit Walker Evans zu sagen, „Stare. It is the way to educate your eye, and more. Stare, pry, listen, eavesdrop. Die knowing something. You are not here long.“ („Starre. Es ist die Art und Weise, Dein Auge zu schulen, und mehr. Starre, spähe, höre zu, lausche. Stirb etwas wissend. Du bist nicht lange hier.“)

Im nächsten Teil wird das Thema „Recht am eigenen Bild“ beleuchtet.

2 Kommentare
    • ThomasD
      ThomasD sagte:

      #Justin – Spontanität und Perfektion schließen sich nicht gegenseitig aus. Ganz im Gegenteil. Die Kunst guter Street- Aufnahmen liegt genau darin.
      Stell dir mal vor: Bei den Millionen Street-Fotos im Netz gäbe es keine EBV um noch was halbwegs hin zu biegen. Was glaubst Du wie viel da noch übrig blieben?

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