Fotografisches Können (1/2): Wie gut bin ich als Fotograf?

Lässt sich fotografisches Können messen? Buchautor George Barr hat ein einfaches System zur Selbsteinschätzung entwickelt. Es trennt zwischen technischem und ästhetischem Niveau.

Eichhörnchen oder Meisterfotograf am Auslöser? Selber rausfinden! (keystone)

In der Diskussion über unsere Foto-Kritik habe ich unter anderem eine Idee erwähnt, die ich seit den ersten Kritiken auf fokussiert.com mit mir herumtrage: Wäre es nicht für Kritiker und Fotografen sinnvoll, wenn sie ihr fotografisches Können einschätzen und uns mitteilen könnten, um eine angemessene und für sie individuell umsetzbare Kritik zu erhalten? Es ist immerhin nicht sehr befriedigend, wenn wir einem Anfänger mit Kompaktkamera oder einer Profi-Landschaftsfotografin mit 20 Jahren Erfahrung einfache Ratschläge zum Objektivwechsel geben oder jemandem, der grade die ersten Gehversuche macht, komplexe Kompositionsempfehlungen und einen Haufen Fachausdrücke um die Ohren hauen.

Einige Leserinnen wie Corinne halten die Selbsteinschätzung der Fotografen mangels objektiven Kriterien für nicht machbar. Bei George Barr, einem Fotografen, Arzt und Blogger, an dessen Workshop ich teilgenommen habe und dessen Buch „Besser Fotografieren“ ich hoch schätze, habe ich allerdings ein System zur Einschätzung des fotografischen Könnens gefunden, das funktioniert (es war nebenbei der Grund, weshalb er vom Verlag Rocky Nook zum Verfassen des Buches eingeladen wurde):

Barr trennt dabei in zwei Gruppen von Fähigkeiten, die eine gute Fotografin ausmachen: Die technische Wissens- und Anwendungsstufe und die ästhetische, künstlerische. Diese Aufteilung ist sehr sinnvoll, weil diese beiden Kategorien sehr unterschiedlich entwickelt sein können; das zu erkennen, erspart jedem von uns bereits einen Haufen Frustration. Denn wer die Kamera beherrscht, aber sein Sehen nicht entwickelt hat, wird genau so wenig Fortschritte machen wie jemand, der hohe künstlerische Ansprüche hat, aber nicht weiss, wie er sie mit der Kamera umsetzt. Fotografieren (im technischen Sinne) und Sehen (im künstlerischen Sinne) sind zwei parallele Schulen, die vor allem fotografische Anfänger bewusst entwickeln müssen. Ich stelle in diesem ersten Posting kurz Georges System der Einschätzung des technischen Könnens vor und in einem folgenden die Massstäbe für das ästhetische Können.

Technische Stufen fotografischen Könnens

Technische Stufe 1: Eine Mehrzahl der Bilder eines Fotografen auf dieser Stufe weisen grobe, auch für den Anfänger erkennbare Fehler auf. Sie sind unscharf, fehlbelichtet, weisen schiefe Horizonte und abgeschnittene Körperteile auf, aus Köpfen ragen Äste des Baums im Hintergrund, der Berg auf dem Landschaftsbild wirkt klein statt gross und so weiter. Im Filmzeitalter wären mehr als die Hälfte der Fotos mit einem Strich drüber aus dem Supermarkt-Labor zurückgekommen.

Technische Stufe 2: Fotografinnen dieser Stufe schaffen technisch akzeptable bis recht gute Bilder. Es fehlt ein Gefühl für das Licht und die wirklich guten Augenblicke, die Urheberin ist selber bisweilen enttäuscht von den Fotos und macht die Erfahrung, dass andere Fotografen spontan Fehler in ihren Bildern benennen können. Ehrliche Analyse zeigt, dass sie Probleme im Umgang mit Schärfentiefe und Fokus und vor allem mit der Konstanz der Ergebnisse hat.

Technische Stufe 3: Selbsterstellte Ausdrucke im A4-Format, die Bewunderung bei Familie und Freunden hervorrufen, sind die typischen Bilder eines Fotografen auf dieser Stufe; unter dem strengen Blick von jemandem mit etwas mehr Erfahrung allerdings zeigt sich, dass ausgefressene oder trübe Lichter und abgesoffene Schattenpartien der Perfektion im Wege stehen, ausserdem Schärfungs-Artefakte und übertriebene Farbsättigung – Zeugen einer relativ grobschlächtigen digitalen Bearbeitung; Gelegentlich sind Schärfe und Auflösung ein Problem.

Technische Stufe 4: Fotografinnen auf diesem Level haben durchwegs gute Prints vorzuweisen. Der Fokus sitzt, die Tonwertverteilung ist korrekt – aber es fehlt noch das Quäntchen Dreidimensionalität, die Aufnahmen der Profis zu haben scheinen. Auf dieser Stufe wird es schwierig, die Mängel zu finden, aber im Vergleich mit erstklassigen Bildern und Ausdrucken zeigen sich leichte Schwächen in den Höhen und Tiefen. Die Bilder ergeben ein sehr schönes Fotoalbum, aber sind noch nicht gut genug, um an die Wand gehängt zu werden.

Technische Stufe 5: Dies ist eigentlich keine Weiterführung der bisherigen Abstufung, sondern eher eine Zwischenstufe zum echten Können – die Selbstüberschätzung. Laut Barr häufig anzutreffen an Workshops: Die A4-Ausdrucke lassen keine technische Kritik zu, aber sie sind auf Hochglanzpapier, mit unattraktiven künstlichen Umrahmungen oder randlos gedruckt; die Fotografen auf dieser Stufe lassen es sich meist nicht ausreden, die Bilder grösser zu drucken, als was die Auflösung zulässt und wollen sich mit Interpolation und Nachschärfung behelfen – was niemals klappt.

Technische Stufe 6: Auf diesem Level gibt’s an den Bildern oder ihrer Präsentation nichts mehr zu kritteln. Die Bildbearbeitung ist kompetent und spurlos. Die Bilder haben Tiefe und keine Übertreibungen irgendwelcher Art.

Damit bleibt nur die ästhetische Kritik – und dort sind die Stufen zum Können deutlich schwieriger zu erklimmen (im folgenden Artikel).

[postlist and „Selbsteinschätzung“ „George Barr“]

[amazon 3898645436]George Barr: Besser Fotografieren[/amazon] – Buchbesprechung auf fokussiert.com

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22 Kommentare
  1. Daniel
    Daniel sagte:

    Ich bin absolut der selben Meinung, dass man das fotografische Können in die zwei Bereiche Technik und Ästhetik aufteilen kann. Zudem denke ich, dass die Ästhetik die viel wichtigere Rolle von beiden einnimmt. Aber ich erachte viele Punkte zu den technischen Aspekten, im vorangestellten Artikel, als ehr populistisch und irreführend!

    Ich halte ehrlich gesagt nichts davon es zu verteufeln wenn die Lichter mal ausgefressen und die Schatten mal abgesoffen sind! Dieser Ganze Dynamikumfang Wahnsinn scheint so langsam den Isowahn abzulösen.

    Warum sollte ein Berg im Bild groß erscheinen? Nur weil das schon immer so gemacht wurde? Mit solchen Aussagen zwängt man schon Anfänger in ein Korsett was sich nur schwer wieder abstreifen lässt. Ein (Un)-Kreative Alptraum nimmt seinen Lauf!

    Was soll eine korrekte Tonwertverteilung sein? Jedes Motiv hat gewissermaßen sein eigenes Histogramm. Zudem kommt die künstlerische Freiheit dazu ein Motiv bewusst über oder unter zu belichten!

    Warum sollte man ein Bild nicht deutlich größer ausdrucken als die Auflösung hergibt? Weil man sonst aus 10cm Abstand eventuell unsauber skalierte Pixel/Dots erkennen kann? Ist das gleiche wie 4K im TV Bereich! Dabei scheinen die meisten zu vergessen, dass man immer einen gewissen Betrachtungsabstand im Verhältnis zur Bildgröße benötigt um das Bild überhaupt im ganzen wahrnehmen zu können. Und ich dachte der Pixelwahn wurde schon vor langer Zeit durch den Isowahn abgelöst.

    Bitte versteht mein Kritik nicht falsch! Natürlich sollte jeder mit der Zeit die Technik im Griff haben. Ich weiß auch worauf ihr anspielt und bin auch da ganz bei euch. Nur finde ich einige Aussagen, wie Eingangs schon erwähnt, etwas irreführend! Ich habe zudem sehr oft die Erfahrung gemacht, dass gerade die Fotografen die einem z.B. die Hyperfokaldistanz physikalisch herleiten können genau diejenigen sind, die den größten Mist abliefern.

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    • Peter Sennhauser
      Peter Sennhauser sagte:

      …wobei Du mit „grösstem Mist“ auch gleich wieder indizierst, dass es einen objektiven Massstab gibt… Ich sehe das ganze ähnlich, aber ich bin der Überzeugung, dass nur sehr, sehr wenige Ausnahmetalente ohne jede Regelkenntnis die tollsten Regelbrüche und damit richtig tolle Kunst erschaffen haben, die meisten richtig guten Künstler aber mal auf der handwerklichen Seite angefangen haben und sich durch Techniken und Erfahrungen durchgearbeitet haben, bis zu einer eigenen Idee, einem eigenen Stil und einem eigenen Ausdruck.
      Was wir hier auf fokussiert.com diskutieren, ist die Basis für das weitere Schaffen – es soll weder die alleinseligmachende Regelung noch – Gott bewahre! – das absolute Regelwerk sein.

    • Daniel
      Daniel sagte:

      Ich danke dir für sachliche Antwort! Und du hast Recht, größter Mist ist auch schon wieder relativ!

      Ich freue mich, dass du den Kern meiner Kritik nachvollziehen konntest.

    • Peter Sennhauser
      Peter Sennhauser sagte:

      Ist es nicht erstaunlich, wie schnell einem kleine Details entgehen – wie das, dass hier genau abwechselnd die Geschlechterformen gebraucht werden? Frauen finden es übrigens lästig, dass sie in der männlichen Form einfach mitgemeint werden sollen. und ich kann die Schrägstrich-Schreibweise nicht leiden. Ein bisschen Abwechslung schadet aber offenbar nicht – sonst hätte es nicht 5einhalb Jahre gedauert, bis sich einer beklagt, nicht wahr?

    • Sabine Münch
      Sabine Münch sagte:

      Nicht alle Frauen finden es lästig, wenn verallgemeinert wird und nur noch die männliche Form da zur Vereinfachung steht. Ich find es eher überflüssig, beide Formen hinzuschreiben wie du vielleicht auch, Peter, und mir fällt kein Zacken aus der Krone und ich fühl mich gleichwertig auch nur mit der männlichen Form angesprochen.
      Diese Feststellung brauchte weitere 1 1/2 Jahre… ;-)

  2. Nicolas
    Nicolas sagte:

    lieber Peter,

    du hast völlig recht mit deiner antwort. ich bin da mit meinem vergleich zu Nan Goldin etwas übers ziel hinaus geschossen. allerdings finde ich, dass man auch als amateur eine, wie soll ich sagen, technisch „provokative“ fotografie betreiben und trotzdem glaubwürdig sein kann. dann erkennt man sich in so einem system nicht unbedingt wieder. ich beziehe mich hier auf meine erfahrung als musiker: wenn man rock’n’roll machen will, kann man die klassik getrost vergessen (wenn man keine lust drauf hat). denn die hält einen dann nur von seinem eigentlichen ziel ab: in einer band zu spielen und die girls zum tanzen zu bringen. okay, ich glaube das führt jetzt auch wieder zu weit, denn eigentlich geht es mir da eher um eine grundsätzliche ästhetische haltung, die hier gar nicht das thema sind.

    ihr macht das hier ziemlich gut – bin ein großer freund euerer seite und hab auch schon einiges bei euch dazu gelernt.

    cheers & danke!
    nic

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  3. Peter Sennhauser
    Peter Sennhauser sagte:

    @Torsten: Das hier ist keine reine Übersetzung von George Barr (die gibt’s als Buch) und erhebt auch nicht den Anspruch, gleich alle Probleme auf einmal zu lösen – es geht vorerst nur darum, eine Einstufung für das eigene Schaffen zu finden. George Barr gibt im Buch, anschliessend an sein Levelsystem, für jede Stufe konkrete Hinweise, wie man sie überwinden und zur nächsten vorstossen kann. Sein wichtigster Rat: Bildbetrachtung, Vergleiche, eigene Bilder kritisieren lassen. Also just das, was wir hier tun.

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  4. Peter Sennhauser
    Peter Sennhauser sagte:

    Nicolas: George Barr sagt zu seinem System eigentlich just das, was ich auch schon die ganze Zeit zu unserer Kritik sage: Wir besprechen hier technisches und ästhetisches Regelwerk – Kunsthandwerk – und nicht die hohe Kunst an sich als Weiterführung von Prozessen. Die grundlegende Fotokritik muss sich von Kunstrezension abgrenzen, die sich mit dem Werk eines Künstlers befasst, seiner Interpretation und Gesamtbedeutung, während wir hier ein Werk besprechen. Im Augenblick, wo der Gesamtkörper eines Werks (eine Bildserie als Weiterentwicklung des Schaffens eines Künstlers) zum Konzeptkunstwerk wird, das auf bewussten, provokativen Brüchen mit den oder allen Regeln aufbaut, versagt logischerweise die Basis-Fotokritik genau so wie dieses Level-System. Aber dabei geht es, wie gesagt, um ein anderes Thema. Kunst auf diesem Niveau – und auch Goldin ist ja keineswegs unumstritten – zeichnet sich dadurch aus, dass jemand Grenzen durchbricht, der aber dabei ganz genau weiss, was er tut, und von dem es auch das Publikum weiss und ihm deshalb interpretativ ins Neuland folgen kann. Es ist der Unterschied zwischen bewusster, konzeptioneller Provokation, dem Hinausschieben von Grenzen, und reinem Zufall. Aber der ist nur in Gesamtwerken oder Portfolios erkennbar, verlangt einen roten Faden und eben auch die Glaubwürdigkeit der Künstlerin – was der Grund ist, warum im Kunstmarkt kein knipsender Anfänger mit zufälligen Regelbrüchen gross wird: Wer die Provokation nicht wiederholen und benennen kann, dem kauft man sie nicht ab (Ausnahmen bestätigen die Regel).

    Antworten
  5. Sam
    Sam sagte:

    die von dir aufgezählten kategorien finde ich durchaus passend. habe mich auch schon eingeordnet :p

    bin gespannt auf den 2. teil

    danke

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  6. Nicolas
    Nicolas sagte:

    wo stünde denn nach dieser einteilung von „können“ eine fotografin wie Nan Goldin? ich finde dieses stufensystem etwas problematisch, wenn man auf nicht so perfekte eher rauere fotografie steht.
    wobei ich dir, Peter, nicht absprechen möchte, dass es euer leben als kritisierende leichter machen würde, wenn ihr wüsstet mit wem ihr es ungefähr zu tun habt . . .

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  7. Torsten
    Torsten sagte:

    Interessanter Artikel ja, aber ich weiß nicht, ich finde das System problematisch. Sicher hilft es, wenn man Zahlen hat an denen man sich orientieren kann, viel Sinnvoller wäre aber eine Art Leitfaden oder Tipps wie man die einzelnen Bereiche der Bilder verbessern kann. Mir hilft die Aussage „Schatten saufen ab“ oder ähnliches wenig, wenn einem nicht gesagt oder beschrieben wird, wie man es besser hinbekommt. Sicher, es hilft viel wenn die Problemzonen erkannt werden, aber das ist halt bei weitem nicht alles.

    Abgesehen davon ist das verlinkte Original besser, auch weil bei der Übersetzung einige reingekommen ist, was vorher nicht da war. Der Hinweis zu den Workshops bei T5 ist so ein Fall. Andere Dinge sind weggelassen worden wie der nette Hinweis bei T1 „It’s actually hard to be this bad in the age of auto focus and auto exposure but some find a way.“

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  8. Uwe
    Uwe sagte:

    Interessanter Artikel und interessanter Ansatz. Die Idee der Trennung von Technik und Ästhetik finde ich sehr gut. Ich bin schon gespannt auf den zweiten Teil des Artikels.

    LG Uwe

    (Stufe 3 auf dem Weg zur 4, aber die 5 wenigstens schon hinter sich ;-))

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  9. Nick
    Nick sagte:

    Schöner Artikel – im technischen Bereich ist es wohl in der Tat noch realativ leicht zwischen einem den klassischen Regeln entsprechenden Bild zu unterscheiden. Wie sieht es aber mit den ästhetischen Regeln aus? Auf diesen Bericht freue ich mich schon…

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