Gasse in Carona: Virtuelle Räume

Das Spiel mit Flächen und Strukturen führt oft in die Abstraktion. Wenn es sich mit bildhafter Darstellung mischt, wird die Geschichte besonders interessant. Hier entsteht sozusagen ein gekrümmter Raum…

Gasse in Carona, TI, Schweiz. Aufgenommen auf Farb-Diafilm, gescannt und in Photoshop bearbeitet. © Hans Georg Sandforth

Gasse in Carona, TI, Schweiz. Aufgenommen auf Farb-Diafilm, gescannt und in Photoshop bearbeitet. © Hans Georg Sandforth

Hans Georg Sandforth aus Rietberg: „Gasse in einem Tessiner Bergdorf“. Das Bild wurde mit einer Nikon FM2 auf Farbdiafilm aufgenommen, später gescannt, in Photoshop bearbeitet und in SW konvertiert. Gereizt hat mich am Motiv die Komposition der Formen und strukturierten Flächen.

Die meisten hier kennen wohl den Künstler M.C. Escher.  Er hat sein Publikum im letzten Jahrhundert mit Zeichnungen fasziniert, die vielfach von [amazon  3836529645]optischen Täuschungen,[/amazon] geometrischen Spielereien und der Mischung aus Foto-Realismus und Abstraktion geprägt waren. Du hast sozusagen das fotografische Pendant zu [amazonna  3822837067]Eschers Grafik der „unmöglichen Konstruktionen“[/amazonna] geschaffen – sehr interessante Stilrichtung!Wir sehen in dieser Schwarz-Weiss-Nacht-Aufnahme (die wirklich nahe an Schwarz-Weiss ist, denn Graustufen gibt es hier fast keine)  einen Rundbogen in einer verputzten Mauer, die fast die ganze rechte Bildhälfte einnimmt. Wir blicken durch den Bogen in der linken Bildhälfte in eine leicht von uns weg ansteigende Kopfsteinpflaster-Gasse, die einen Knick nach links hinten macht. Dort hinten scheint eine zweite Lichtquelle zu sein – die andere liegt irgendwo rechts vom Standort des Fotografen, sie beleuchtet die Szene von vorn. Die Aufnahme weist eine durchgehende Schärfe auf, wobei der unmittelbare Vordergrund am linken unteren Bildrand durch die Beleuchtung und den harschen Kontrast einen Hauch Unschärfe zu erhalten scheint, was dem Bild zusätzlich Tiefe verleiht.

Was die technischen Daten des Bildes angeht, müssen wir nicht viele Worte verlieren – Du hast analog auf Diafilm in Farbe fotografiert und dabei eine Nachtaufnahme ziemlich optimal belichtet, indem Du, wie ich annehme, mit empfindlichem Film und ohne Blitz gearbeitet hast.

In der Aufteilung passt das Bild am ehesten in den Eckdiagonalen

In der Aufteilung passt das Bild am ehesten in den Eckdiagonalen

Jedenfalls ergibt sich eine Komposition von Flächen, die von zwei Quellen beleuchtet werden, wobei sich die beiden Lichtkegel nirgends überschneiden. Das erscheint mir wesentlich: Das Bild hat Tiefe, obschon oder eben grade weil es aus zwei hintereinander liegenden, grundsätzlich getrennten Lichträumen besteht. In diesem Gewirr von Linien und Flächen scheint dennoch alles miteinander verbunden, dabei haben wir ganz eindeutig einen vordergründig beleuchteten Bildtteil und einen separaten, der im Hintergrund liegt und seine eigene Lichtquelle hat. Mit anderen Worten: Wir verbinden in unserer Vorstellung die beiden Räume, obwohl sie klar separiert sind.

[bildkritik]

Viele Flächen stehen hier in unterschiedlichen Beziehungen zu einander.

Viele Flächen stehen hier in unterschiedlichen Beziehungen zu einander.

Das ist noch nicht alles. Weil es im ganzen Bild praktisch keine rechten Winkel gibt, verbinden wir auch die Flächen auf eine Art miteinander, die nicht der Realität entspricht. Die Brücke hier ist der Torbogen, der von uns weg ins Bild hineinragt, aber zugleich die Verbindung zum Schatten links, zur rechtwinklig von uns nach rechts weglaufenden Wand und zur Gasse im Hintergrund ist.

...dabei gibt es nur zwei Räume mit je einer Lichtquelle, die vollständig getrennt sind.

…dabei gibt es nur zwei Räume mit je einer Lichtquelle, die vollständig getrennt sind.

Das alles funktioniert deshalb so gut und eben wie ein Escher-Bild, weil die Flächenverhältnisse im Torbogen nicht zu sehen sind: Sie liegen vollständig im Dunklen. Wenn man das Bild in den Tiefen stark aufhellt, erscheinen plötzlich die Linien, die wieder Ordnung in den Flächen schaffen – damit aber gleichzeitig die Illusion der zusammenhängenden Räumlichkeit aufheben.

Das Geheimnis der Aufnahme: Die Beziehung dieser drei Flächen zueinander ist nicht erkennbar, weil sie im Schatten versteckt wird. Also ergänzt unser Hirn mit einem nahtlosen Übergang, den es so nicht gibt.

Das Geheimnis der Aufnahme: Die Beziehung dieser drei Flächen zueinander ist nicht erkennbar, weil sie im Schatten versteckt wird. Also ergänzt unser Hirn mit einem nahtlosen Übergang, den es so nicht gibt.

Diese einfache Fotografie ist auf vielen verschiedenen Ebenen spannend, Auf der bildhaft-inhaltlichen genau so wie auf der abstrakten, als reines Gebilde von Flächen und Linien. Diese halbe Abstraktion ist sehr reizvoll und nicht einfach zu erlangen, weil sehr schnell eine der beiden Betrachtungsweisen überwiegt. Dir ist hier ein ausgeglichenes Konstrukt sehr gut gelungen.

Mich fasziniert es aber zusätzlich durch die Verwirrung auf der logischen Ebene, die unser Gehirn sofort zu erklärten versucht, indem es den Bezug der Räume zueinander dort schafft, wo er nicht erkennbar ist.

Ich würde nichts ändern an dem Bild, auch nicht den Beschnitt von rechts vornehmen, der mir zuerst vorgeschwebt ist – das Gewicht der verputzen Wand dort hält die Balance zur Mauer des Torbogens. Einziger Kritikpunkt: Am unteren Rand des Torbogens gibt es eine Tendenz zur Posterisation, das Schwarz erzeugt dort einen Saum. Der liesse sich vielleicht mit einer leichten Anhebung der Tiefen reduzieren.

Tolle Fotografie.

14 Kommentare
  1. Hans Georg Sandforth
    Hans Georg Sandforth sagte:

    Hallo Dierk,

    das von Dir beschriebene Verfahren zur Digitalisierung analoger Aufnahmen ist mir bekannt, danke für den link mit der ausführlichen Beschreibung. Bisher hatte ich jedoch nicht genug Zeit, um mich näher damit zu befassen und mir eine entsprechende Ausrüstung zuzulegen. Ich bin ein Hobby-Photograph, der nur gelegentlich zu Kamera und Photoshop greifen kann. Dem entsprechend muss ich z.Zt. den Anspruch an die technische Qualität meiner Aufnahmen und Bildbearbeitungen klein halten. Ich versuche, diesen Mangel durch Bildkomposition und -gestaltung zu kompensieren.
    Wenn Du interessiert bist und die Zeit dafür aufwenden willst, könnte ich Dir das Diapositiv „Carona“ zur Bearbeitung zusenden, das Ergebnis würde mich und vielleicht auch Sabine Münch und Peter Sennhauser interessieren; aber fühle Dich nicht gedrängt, so etwas kann man auch auf später verschieben.
    PS: Du hast u.a. wunderbare SW-Aufnahmen gemacht, wie ich auf „flickr“ sehen konnte. Respekt und grosses Kompliment !

    Hans Georg

    Antworten
    • dierk
      dierk sagte:

      Hallo Hans Georg,
      du kannst mir natürlich gerne das Dia zusenden (das Original? Peter kann dir ggf. meine email geben). Ich denke aber, wenn du den Scann sehr weich einstellst, solltest du alles bekommen, was drin ist. Wenn also unter dem Torbogen noch Zeichnung ist, ist es vielleicht besser, sie erst später in PS mit dem gewünschten Kontrast zu bearbeiten. Wenn es im Scann nicht drin ist, kann PS oder Nik es nicht mehr ändern.

      Meine Beobachtungen bezogen sich eher auf das Bild als solches und den dominierenden rechten Teil.

      Ich möchte noch eine wichtige Info zum Abfotografieren anfügen.
      Das geht ohne Probleme mit Dias und S/W Filmen. Bei Farbfilmen bekommt man die Farbmaske des Filmmaterials nicht so leicht raus. Da ist ein Scanner mit einem richtigen Profil für den besonderen Film einfacher (wenn man es denn hat).

      Noch eine Überlegung zum Abfotografieren.
      Man kann damit natürlich jede beliebige Auflösung erzielen! Man muss noch mit mehr Vergrößerung arbeiten und das Bild in mehreren Teilen fotografieren und nachher stitchen. So habe ich es mit 6×6 und 9×12 Negativen teilweise gemacht. Oft reicht die Auflösung des Films aber dafür nicht mehr bei einer 42 MP Kamera.
      Hier ist so eine Aufnahme, zusammengesetzt aus 8 Bildteilen von 2 Aufnahmen 9×12, die schon bei der Aufnahme als Panorama so geplant war (digitalisiert mit A7R 36 MP ergaben 7.600×17.200 Pixel):
      https://www.flickr.com/photos/dierktopp/14157145256/in/album-72157644701062533/

      Hier ist eine Serie von 50 Jahre alten Dias, die ich so digitalisiert habe:
      http://www.stevehuffphoto.com/2016/08/26/film-friday-trip-to-arkhangelsk-russia-by-dierk-topp/

      VG
      dierk

      PS danke für das Kompliment :-)

  2. Lehmann Paula
    Lehmann Paula sagte:

    Hallo Herr Sandforth,

    Ich muss (auch) gestehen, dass mich gerade dieser links im Vordergrund etwas
    „ver- störende“ Torbogen, in den Bann zieht zum Verweilen in diesem Blickwinkel.
    Zwar lenkt es etwas ab von dem auch wunderbar dargestellten Schatten und schönen Mauerkonturen im Innern- doch dieser linke Torbogen hat einen sehr interessanten Aspekt, dadurch dass er „eher aneckt“, im Auge des Betrachters.
    Auch finde ich alle anderen Betrachtungen und Anregungen hier sehr gut gesehen und sind sicher für neue Experimente mit diesem Torbogen interessant.
    Herbstgruss Paula

    Antworten
    • dierk
      dierk sagte:

      Hallo Stefano,
      da du professionell Fotokurse gibst wäre es für mich und sicher auch andere sehr interessant, was du nach „längerem Betrachten“ zu dem Bild sagen kannst?
      Was gefällt dir (besonders) und
      was würdest du ändern oder anders machen – bei der Aufnahme oder bei der Bearbeitung.
      VG
      dierk

  3. dierk
    dierk sagte:

    Hallo Hans,
    grundsätzlich gefällt mir das Bild sehr!

    Mit der Einschränkung „grundsätzlich“ meine ich, dass mich die durch das Seitenlicht stark strukturierte Mauer rechts und die unstrukturierte (nur durch das Korn ist etwas zu sehen) schwarze Fläche darüber stören. Ich finde, dass es nicht zu dem linken eher weichen Bild passt. Wenn ich den rechten Teil, also die Mauer abdecke, wird ein (für mich!) traumhaftes aber natürlich auch ein anderes Bild daraus.

    Vielleicht könnte man die Mauer (oder sogar den ganzen Vordergrund) etwas abdunkeln, damit sie nicht so grell gegen die Lichtstimmung der Straße unter dem Torbogen wirkt. Und die Struktur der Mauer etwas weicher machen.

    Da es ein Dia ist, sollte wie Peter schreibt unter dem Bogen noch genug Zeichnung sein. Die Bearbeitung mit Nik Silver Efex könnte da mit wenigen Klicks vielleicht etwas raus holen.

    Antworten
    • Hans Georg Sandforth
      Hans Georg Sandforth sagte:

      Hallo Dierk,

      vielen Dank für die Anregung !
      Ich werde es mal mit Silver Efex probieren; allerdings werde ich versuchen,
      den Kontrast durch das Abdunkeln nicht zu stark zu reduzieren, denn ich meine, das Bild lebt auch durch das Spiel der zum Teil harten Kontraste.

      Hans Georg

    • Peter Sennhauser
      Peter Sennhauser sagte:

      Ich finde grade die Wirkung durch die harten Kontraste sehr bezeichnend für das Bild. Aber ein vorsichtiges Herantasten ist es jedenfalls wert.

    • Sabine Münch
      Sabine Münch sagte:

      Mhmm, ich kann mir das Bild gar nicht ohne diese Kontraste vorstellen. Wenn du es ausprobierst, Hans Georg, lass uns an deinem Ergebnis doch bitte teilhaben. ;-)

      Schönen Abend euch allen, Sabine

    • Hans Georg Sandforth
      Hans Georg Sandforth sagte:

      Hallo Dierk,

      ich hab’s versucht und das Ergebnis hochgeladen.
      Kommt das Ergebnis Deinen Vorstellungen näher ?

      Hans Georg

    • dierk
      dierk sagte:

      Hallo Hans Georg,
      leider sieht das Bild bei mir nicht viel anders aus als das Original. Und es ist auch sehr klein, um es besser beurteilen zu können :-(
      Unter dem Torbogen ist es jetzt ganz schwarz.

      Etwas OT:
      Wenn du wie ich auch viele alte Analogfotos hast, wird dich vielleicht ein schnelleres Verfahren als ein Scanner interessieren?
      Ich habe dazu hier etwas geschrieben:
      http://www.stevehuffphoto.com/2014/05/29/digitizing-slides-and-negatives-on-the-cheap-by-dierk-topp/

      Man braucht dafür ein Objektiv für 1:1 Abbildung und wie dargestellt ein Tablett als Lichtquelle.

      Noch schneller geht es natürlich mit einem Blitz, im besten Fall mit TTL Steuerung. Dazu ein Bild. Hier mit Balgen, Kopierzusatz und einem Vergrößerungsobjektiv (liegt heute bei ca. 50€). So brauche ich für einen Negativstreifen von 6 Bildern keine 30 Sekunden.

    • Sabine
      Sabine sagte:

      Danke für deinen letzten Beitrag und deinen Ausführungen zum Umgang mit alten Analogfotos, Dierk. Darüber freut sich grad jemand. ;-)

      Vielleicht könnt ihr, Hans Georg und du, das Foto aus Corona mal austauschen und du zeigst anhand deiner Bearbeitung, was du meinst und welche Art der Interpretation des Bildes du vor Augen hast, Dierk? Fänd ich spannend.

      Sonntagsgrüße von Sabine

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