Glasdach-Abstraktion: Belichtungs-Herausforderung

Transparenz und Glas und der Kontrast zur Natur hinter dem industriellen Zerfall können grossartige Motive sein, die aber häufig spezielle Anforderungen an die Belichtung stellen.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Bodo Viebahn).

Kommentar des Fotografen:

Das Bild habe ich durch das zerstörte Dach eines Operationssaales der Beelitzer Heilstätten aufgenommen. Mich hat die Irritation und der Kontrast zwischen der zarten Wolke und den Spuren des Zerfalls gereizt.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Bodo Viebahn:

Was für ein grossartiges Motiv: Licht, Schatten, Flächen, Linien und Farben in wechselnder Zusammensetzung und Tiefe und einem Muster aus „natürlichen“ und artifiziellen Formen – Abstraktion durch Zerfall, sozusagen:

Sehr schön gesehen.

Das Bild ist mir schon deswegen sofort aufgefallen, weil ich es in einer andern Version bereits gesehen habe: Bei George Barr, dem Autor des sehr empfehlenswerten Buchs „Besser fotografieren“, auf dessen amerikanischer Version das Bild den Buchumschlag macht. Du findest die Aufnahme – leider in sehr schlechter Qualität – auch auf George Barrs Website.

Ich muss gestehen, dass mir seine Version doch noch ein bisschen besser gefällt als Dein Bild – sofern man denn Äpfel mit Birnen vergleichen kann. George hatte nämlich eine etwas weniger schwierige Aufgabe vor sich, weil es sich nicht um ein Glasdach mit ultrahellem Himmel obendran handelt, sondern ein zerschlagenes Fenster vor einem teilweise verdunkelten Fabrikraum, wobei das Restlicht in den Glasscherben im Rahmen gestreut wird und sie dadurch vor dem dunklen Hintergrund abhebt.

Du hast hier eine weit komplexere Aufgabe vorgefunden: Eine (durch die Algen teilweise verdunkelte) geborstene Glasdecke in einem schätzungsweise relativ dunklen Raum vor dem extrem hellen Tageshimmel. Das Bild hatte in der Natur zweifellos einen Kontrastumfang, den die Kamera nie und nimmer einfangen konnte. Will heissen, Du hattest die Wahl, entweder auf die Unterseite der Glasdecke zu belichten – und den Himmel weiss ausbrennen zu lassen, oder auf den Himmel zu belichten, worauf die Glasdecke fast schwarz würde. Du hast Dich für zweites entschieden.

Ich vermute, dass es so war und dass Du die total unterbelichteten Bildteile im Innenraum mit einem Bildbearbeitungsprogramm aufgehellt hast (In Lightroom: „Aufhelllicht“). Ich könnte mich (angesichts der beschränkten Auflösung des JPG-Bildes) täuschen, aber ich halte die Farbsprenkel in den dunkleren Bildteilen für das Rauschen der Kamera. Jedenfalls wirkt das JPG auf mich, wie wenn man es nicht sehr viel stärker vergrössern könnte, ohne dass hässliche Farbaberrationen an den Kanten und heftiges Rauschen in den dunkleren Partien sichtbar würden. Und das ist sehr schade, denn es ist ein außerordentlich spannendes Bild.

Was also hättest Du anders machen können? Absolut kritisch ist es zunächst, dass Du diese Aufnahme nicht als JPG, sondern im kamera-internen Rohformat RAW aufzeichnen lässt. Dieses vermag wesentlich mehr Helligkeitsabstufungen aufzuzeichnen, als das JPG-Bildschirmformat mit 256 Grauwerten speichern (und ein LCD-Bildschirm anzeigen) kann. Daraus lässt sich danach am PC mit einem guten Bearbeitungsprogramm an beiden Enden des Spektrums noch viel herauskitzeln, was bei einer Speicherung als JPG schon in der Kamera verloren geht.

Was die Belichtung angeht, hast Du etwa vier Optionen.

Eine Variante Deiner Lösung hätte darin bestanden, mit der Spotmessung auf einen Bereich der oberen Decke zu belichten, der ungefähr in der Mitte des Kontrastumfangs des ganzen Ausschnitts liegt. Damit hast Du eine Chance, mit einer partiellen Stauchung des Histogramms in entsprechenden Programnmen wie Lightroom die überbelichteten Werte so abzusenken, dass sie Zeichnung haben und am anderen Ende des Spektrums das gleiche mit den Unterbelichteten Werten zu tun.

Eine zweite Lösung bestünde darin, auf eine dicke Wolke am Himmel oder ganz einfach den Abend zu warten – grade so lang, bis der Himmel ausreichend gedämpft wäre. Je nach Umständen könnte es dabei aber in der Halle, wo Du standest, auch bereits zu Dunkel geworden sein.

In vielen Fällen ein gangbarer Weg wäre, mit einem externen Blitz die dunkelsten Bildbereiche gerade so stark aufzuhellen, dass sie in den Kontrastbereich hineinpassen. In diesem Falle wäre das aber wenig sinnvoll, weil der Blitz kaum die oberen und die unteren Deckenbereiche beleuchten könnte oder es dabei zu Schlagschatten gekommen wäre.

Die klar beste Lösung in scheint mir hier ein HDR-Bild zu sein, das weit mehr Helligkeitswerte abdeckt, als die Kamera eigentlich in einer Aufnahme erfassen kann – wir haben das Thema mehrfach behandelt. Grundsätzlich geht es darum, eine Serie von teilweise unter- und teilweise überbelichteten Bildern aufzunehmen und sie dann so zusammenzusetzen, dass ein einziges Bild entsteht, das alle Schattierungen korrekt abbildet – man nutzt dazu Bracketing und kann die HDR-Technik durchaus aus der Hand anwenden, jedenfalls aber ab Stativ, und ein Programm, das aus der Bildserie ein HDR-Bild macht.

Wenn Du dazu die Zeit und die Möglichkeit hast, würde es sich wohl sogar lohnen, noch einmal hinzufahren und das gleiche Bild mit verschiedenen Techniken oder unter anderen Lichtbedingungen aufzunehmen zu versuchen. Bei solchen „zweiten Anläufen“ erschließen sich nicht selten noch bessere Perspektiven und Kompositionen.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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3 Kommentare
  1. Bodo Viebahn
    Bodo Viebahn sagte:

    Hallo Peter,
    vielen Dank für Deine ausführliche Bildbesprechung. Hat mich natürlich sehr gefreut, dass Dich das Bild angesprochen hat. Ich habe es aus einer RAW-Datei entwickelt, aber nach Deinen Hinweisen habe ich es mir noch einmal vorgeknöpft und bemerkt, dass ich tatsächlich nicht an die Grenzen des Machbaren gegangen bin. Das hilft mir für die Zukunft. Der Hinweis auf George Barr war eine wahr Fundgrube für mich. Sein Stil spricht mich sehr an und der Artikel über sein Buch hat mich zu einem Spontankauf beflügelt. Ich habe gerade „Das Zen der Kreativität“ von John Daido Loori gelesen und George Barr´s Buch ist die ideale praxisnahe Erweiterung dazu. Vielen Dank für den Tip!
    Mit kreativen Grüßen
    Bodo

    Hallo Jürgen,
    vielen Dank für Deinen anerkennenden Kommentar. Freut mich sehr, dass Dich das Bild anspricht.
    Liebe Grüße
    Bodo

    Antworten

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  1. […] Verfallene Technik und Industriedetails sind zwar bei einer gewissen Fotoschule (*hüstel* George Barr *hüstel*) sehr beliebt, aber im Kern meist langweilig. Die aufgereihten Schutzhelme im Hintergrund […]

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