Gute Aussichten 2013/2014: Eine Bandbreite wie selten

Marian Luft, Back2Politics. www.guteaussichten.org. © Marian LuftZehn Jahre besteht der Wettbewerb für die junge deutsche Fotografie nun. Inzwischen hat sich Gute Aussichten als Gradmesser für aktuelle Tendenzen etabliert.

 

Im Jahrgang 2013/2014 präsentiert Gute Aussichten eine inhaltliche, ästhetische, mediale und formale Bandbreite, wie sie die junge deutsche Fotografie selten geboten habe, so teilen die Veranstalter mit.

In all dieser Vielfalt ein gebe es ein „geradezu verblüffend verbindendes Element“: das Nicht-Erfüllen von Erwartungen, das Nicht-Einlösen von Versprechen, das Nicht-Einhalten von Konventionen, das Nicht-Geschehen des Vorhersehbaren, das Nicht-Sein des Geahnten, des Da- Seins. Das ziehe sich wie ein roter Faden durch die Arbeiten der insgesamt neun Preisträger: Hoffnungen werden da enttäuscht, physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt, mediale Grenzen überschritten und Sehgewohnheiten auf den Kopf gestellt.

Zum Wettbewerb Gute Aussichten reichen die deutschen Hochschulen mit Studiengang Fotografie die Abschlussarbeiten ihrer Abolventen ein. Von der Jury wurden diesmal als Preisträger ausgewählt: Nadja Bournonville, Anna Domnick, Birte Kaufmann, Lioba Keuck, Alwin Lay, Marian Luft, Stephanie Steinkopf, Daniel Stubenvoll und Christina Werner. Zur Jury gehörten neben der Gründerin Josefine Raab, Wibke von Bonin, Verena Hein, Mario Lombardo, Luminita Sabau, Hans-Christian Schink und Ingo Taubhorn.

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Wir stellen hier fünf der neun Preisträger näher vor. Siehe auch die Bilder zum Beitrag, die Vorstellungstexte sind von Josefine Raab:

Nadja Bournonville – A Conversion Act (Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig):

Ausgangspunkt der Arbeit von Nadja Bournonville ist das Krankheitsbild der Hysterie. Vom altgriechischen „hystéra“ (Gebärmutter) kommend, wurde bis weit in das 19. Jahrhundert hinein Hysterie als eine ausschließlich weibliche Störung der Psyche betrachtet, deren Sitz man in einer wandernden (weil sexuell unbefriedigten) Gebärmutter vermutete. Sigmund Freuds (1856-1939) Forschungen zu diesem seinerzeit äußerst populären Thema führten zu einer medizinischen Neudefinition der Hysterie, die er als Konversionsstörung (lat. Conversio = Umwendung, Umkehr), als eine Übertragung einer seelischen Störung auf die körperliche Ebene beschrieb. In ihrer fotografischen Arbeit zu „A Conversion Act“ greift Bournonville diesen Gedanken der Umwandlung von seelischen Vorgängen in das Körperliche auf und entwirft zwei einander ergänzende Serien aus jeweils acht Motiven. Für die „Medical Machines“ fertigt die Künstlerin aus Alltagsgegenständen eine Reihe von surreal anmutenden Gerätschaften, die an medizinische Apparaturen früherer Zeiten erinnern. Diese Kleinformate, in denen die aus heutiger Sicht brachialen Behandlungsmethoden seelisch Erkrankter gewissermaßen ad absurdum geführt werden, kontrapunktiert die Künstlerin mit großformatigen, szenographisch angelegten Einzelbildern. In deren bildnerischem Repertoire klingen Ausdrucksformen und Ikonografien sowohl symbolistischer, dadaistischer als auch surrealistischer Kunst an. Der Betrachter sieht sich in anspielungsreiche, unserer greifbaren Wirklichkeit völlig entrückte Bildräume versetzt, die uns in eine assoziativ aufgeladene, magisch wie grotesk anmutende Traumwelt führen.

Anna Domnick // Calm II (Fachhochschule Bielefeld):

In ihrer zehnteiligen Serie „Calm II“ setzt sich Anna Domnick mit der Visualisierung einer geistigen wie materiellen Auflösung auseinander. Die intensive Betrachtung von Landschaft, die sie selbst als autobiographisches Moment in ihre künstlerische Arbeit hineinträgt, transformiert sich in „Calm II“ zu einer weitestgehenden Abstraktion des konkreten Motivs. In fünf minimal variierten Landschaftsbildern gibt ein radikal tief liegender Horizont den Blick frei in die Weite des sich darüber wölbenden Himmels. Die Landschaft ist reduziert auf am unteren Bildrand ruhende Farbstreifen, in denen sich Topographie in Form von übereinander gelegten Pigmentierungen äußert. Gepaart werden diese Bilder mit Körperbetrachtungen einer weiblichen Figur – zwei Rückenakte angeordnet als Diptychon, zwei Hautbilder und eine sich im Schwarz verlierende Kontur. In den abwechselnden Bildfolgen von Landschaft und Körper visualisiert Anna Domnick den für sie wechselseitigen Prozess, in dem geistige und physische Auflösung einander bedingen. Während sich Landschaft zu einem spirituellen Raum sublimiert, löst sich die Physis im zentralen Bild der Serie mehr und mehr in der Schwärze des Bildgrundes auf. Beide – Landschaft wie Körper – gerinnen zu einer Vision der Entgrenzung von Körper und Geist.

Birte Kaufmann – The Travellers (Ostkreuzschule für Fotografie, Berlin):

Tinker oder Gypsy Cob sind Bezeichnungen für Pferde der Rasse Irish Cob, deren Züchtung traditionell und noch heute in den Händen der irischen Traveller ruht. Noch vor weniger als 40 Jahren zogen die gescheckten Pferde die Planwagen der Traveller Clans quer durch das Land. Die Pavee, wie die Traveller offiziell genannt werden, sind laut Wikipedia „eine als fahrend beschriebene soziokulturelle Gruppe Irlands“. Die Landfahrer leben in Familienclans, sprechen eine auf das Gälische zurückgehende eigene Sprache und werden – wie alle nomadischen oder halbnomadischen Völker – von den jeweiligen Einwohnern und Behörden argwöhnisch beäugt. „Kesselflicker“ (tinker) ist eine auch im deutschen Sprachraum negativ konnotierte Bezeichnung für Landfahrer. Die Sesshaften vermeiden nach Möglichkeit die Berührung mit fahrendem Volk – werden den Umherziehenden ohne festen Wohnsitz und den damit außerhalb der Gesellschaft Stehenden doch gerne allerlei kriminelle Machenschaften nachgesagt. In früheren Zeiten lebten auch die irischen Traveller davon, Kessel und allerlei andere Gebrauchsgeschirre zu flicken, Pferde zu beschlagen oder Messer zu schleifen. Diese Arbeitsfelder sind mit dem Einzug moderner Zeiten jedoch nahezu von der Bildfläche verschwunden. Heute kann eine große Zahl der Pavee in Irland und England nach wie vor nicht lesen oder schreiben und lebt, neben der Pferdezucht, von Sozialhilfe. Die Traveller sind eine geschlossene Gesellschaft mit eigenen Regeln und Traditionen. Birte Kaufmann hat sich mit großer Ausdauer Zugang zu einigen, ihrerseits äußerst misstrauischen, Familien verschafft und ihre Fotografien, die zwischen Dokumentation, Narration und Inszenierung schwingen, gewähren einen authentischen Einblick in eine uns verborgene Welt.

Marian Luft – Back2Politics (Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig):

„Wenn keine Revolution herrscht, muss man sie eben herstellen“, übertitelte „Die Zeit“ einen Artikel zu einer Studie über die Zeitschriftenreihe „Kursbuch“ von Hans Magnus Enzensberger. (Henning Marmulla: Enzensberger Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Verlag Matthes und Seitz. 2011. Die Zeit Nr. 276 vom 26.11.2011). Was sich als Reminiszenz zu Enzensberger legendärer Rede anlässlich der Pariser Aufständeim Juli 1968 liest, könnte – mit einem zwinkernden Auge auch für Marian Luft und seine mehrteilige Serie „Back2Politics“ gelten: In einer Zeit, in der (zumindest in Deutschland) gerade keine Revolution in Sicht ist, muss bzw. kann man, zumindest als Künstler, jederzeit eine anzetteln. „Das Politische als Akt der Umschreibung eines Zustandes in einen Anderen“ so ein ebenso vager wie vieldeutiger Erklärungsansatz des Urhebers – lässt uns relativ im Dunklen tappen. Betrachten wir das Werk, so stehen wir vor einer mehrteiligen, aus großformatigen Bildern bestehenden Rauminszenierung, die in allen Teilen inhaltlich wie apparativ dem Computer entspringt. Marian Luft sampelt Inhalte analog zu zeitgenössischer Kunst- und Kulturproduktion und generiert daraus ein gänzlich eigenständiges ästhetisches Produkt. So bedient er sich beispielsweise für „Funtasies“, einem Digitalprint auf Plexiglas mit programmierten LED Panel, bei den privat eingestellten Bilderströmen des tumblr Netzwerkes. Aus 310 000 Einzelbildern baut er sein „Tumblr Transparent“, einen multicoloren Flickenteppich aus Bilderschnipseln, die alles oder eben auch nichts erzählen. In dem Monumentalprint „The Aethetic of the Political“ (300×300 cm) sieht sich der Betrachter einer azurblauen Fläche gegenüber, deren Zentrum eine explosionsartig auseinanderstiebende Fläche digitaler Kritzeleien darstellt – eine wilde, inkohärente Ansammlung „politischer Schmierereien“ (Marian Luft), deren Nicht-Inhalt durchaus als Analogie auf eine herrschende politische Un-Kultur gelesen werden darf. Untermalt wird das Ganze von einer schrillen Sound-Collage, deren misstönige Polyphonie als kontrapunktischer Klangteppich die hyperrealistisch entleerte Glanzästhetik der Bildflächen entlarvt.

Daniel Stubenvoll – Saubere Arbeit (Kunsthochschule Kassel):

Daniel Stubenvoll scheut sich nicht nach dem Wesentlichen zu fragen: Woher kommt das Neue und wie entsteht es? Im Keller seiner Hochschule findet er eine zugeflüsterte, vermeintliche Antwort: Alles beginnt mit einem Grundstein – der ist das Fundament einer jeden Arbeit und wird von ihm fotografisch ins Bild gesetzt. Die Arbeit muss, da ist Daniel Stubenvoll sich sicher, „sauber“ sein, einem Bauwerk gleichen. Also stiftet er elf seiner Kommilitonen unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen dazu an, ein Werk über diesen Grundstein zu machen. Aus diesen Werken kuratiert Stubenvoll, zusammen mit seiner eigenen Grundstein-Fotografie, eine fiktive Ausstellung und ein echtes Künstlerbuch, in dem der Entstehungsprozess, die Grundstein-Werke und die Ausstellung dokumentiert werden. Diese 11 neuen Grundsteine dienen Daniel Stubenvoll dann als Ausgangspunkt und Inspirationsquelle für seine »Saubere Arbeit“. In der er, die Bilder seiner Künstlerkollegen zitierend, seine eigenen Bilder aus und mit den fremden zusammensetzt und fotografiert. So werden wir, Stück für Stück, Zeuge einer Genese, die sich im Verlauf ihrer Werdung mit dem produktiven Scheitern am eigenen Bild und den Stärken der Fotografie auseinandersetzt.

Gute Aussichten – Junge deutsche Fotografie 2013/2014
Bis 23. März
Haus der Photographie / Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2, D-20095 Hamburg
+49 (0)40 321030, mail@deichtorhallen.de
Geöffnet Dienstag bis Sonntag 11-18 Uhr

Gute Aussichten
Haus der Photographie / Deichtorhallen Hamburg

1 Kommentar
  1. Brigitte Giani
    Brigitte Giani sagte:

    Ich bin erstaunt über die Qualität der Fotos. So etwas Interessantes habe ich noch nicht gesehen.
    Die meisten Fotoausstellungen sind doch sehr konventionell und langweilig.
    Gibt es einen Katalog dazu?

    Antworten

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