Impressionistische Verfremdung: Mystischer Waldspaziergang

Unschärfe, schlechtes Licht und Verwackelung ist nicht in jedem Fall ein Manko. Solche „Fehler“ können bewusst als Stilmittel für impressionistische Aufnahmen eingesetzt werden. Leider gelingen solche Aufnahmen häufiger aus Zufall denn aus Absicht.

Kati Halle: Mystischer Waldspaziergang
Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Kati Halle). – Keine Exif-Daten

Kommentar der Fotografin:

„Mystischer Waldspaziergang“ – mit avaiable light fotografiert. Die Kindergruppe kam auf mich zu. Nikon F 601 mit 35-200 Nikkor, kein Blitz.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Kati Halle:

Aller Faszination für dieses Bild zum Trotz – im Schlafzimmer würde ich es nicht aufhängen. Die Stimmung wirkt auf mich weniger mystisch als unheimlich und albtraumfördernd.

Das liegt zweifellos an einem Detail, welches die ganze Aufnahme ausmacht:

Die Gesichter der Kinder sind gerade noch so gut erkennbar, dass die Schemenhaften Gestalten etwas Menschliches bekommen, ohne dass ihr Ausdruck lesbar ist. Zusammen mit der Vorwärtsbewegung und dem langen Zug anscheinend schweigender Seelen, die sich auf uns zu bewegen, entsteht eine düstere, geisterhafte Stimmung – Arnold Böcklins Toteninsel gemischt mit dem Blair-Witch-Project. Vielleicht bin ich aber auch persönlich zu sehr von ähnlichen, historischen Aufnahmen endloser Schlangen schweigender Menschen in Schwarz/Weiss und vom Kinokniff, Wesen mit halbmenschlichen Gesichtern aus dunklen Ecken hervorschiessen zu lassen, geprägt…

Nicht zu bestreiten ist jedenfalls die Anziehungskraft, welche die Gesichter haben. Der Mona-Lisa Effekt tritt ein: Als erstes versuche ich in diesem Bild die Stimmung der Kinder zu erkennen, um daraus den Rest des Bildes besser lesen zu können – aber dies bleibt mir verwehrt, die zwei Gesichter im Vordergrund lassen mehr Spielraum für Interpretation, als sie Hinweise geben.

Wenn dem nicht so wäre, wenn beispielsweise die beiden Mädchen an der Spitze des Zuges eindeutig fröhlich lachend oder schwatzend nicht zur Fotografin, sondern sich gegenseitig anblicken würden verlöre das Bild sofort seine Magie. So aber bleiben Fragen offen, klammert sich der Betrachter an jeden Hinweis zur versteckten Geschichte.

Dazu bleibt nur der Rückgriff auf die Umgebung, weg vom Zentrum des Bildes: Dem Erdwall rechts und dem offenbar dichter werdenden Baumbestand links; die hellste Fläche des Bildes sind der Weg und die Köpfe der Kinderschar, die aus der Tiefe und aus dem Licht auf uns zu kommen.

Dieser Impressionismus wird durch die Verpixelung der Aufnahme – entweder, sie wurde in Photoshop mit einem Mosaikfilter bearbeitet oder es handelt sich um einen extremen Ausschnitt – zusätzlich gefördert. Das ist gut so, denn wir sind als Betrachter erst ab einem gewissen Mass der Verfremdung bereit, uns darauf einzulassen und nicht im Kopf zu versuchen, „Imperfektionen“ der Aufnahme zu „korrigieren“.

In diesem Fall ist die Versuchung nicht gross, weil die Unschärfe nicht das einzige Element ist, welches die Aufnahme sofort als beabsichtigte Abstraktion ausweisen – die Verwackelung, deutlich erkennbar an den zu kleinen Schlangenlinien mutierten Spitzlichtern im Blätterdach des Waldes, und die schwer erklärbare scheinbare konzentrische Bewegungsunschärfe im Vordergrund lassen keine Zweifel daran aufkommen, dass dies kein miss-, sondern ein sehr geglücktes Bild ist.

KlötzchenbildungMir persönlich geht allerdings die Klötzchenbildung etwas zu weit, auch wenn sie vielleicht nur in der mir hier vorliegenden grossen Auflösung so stark hervortritt – ich würde sie mit einer Unscharfmarkierung zu verwischen suchen, ohne die Gesichter der Mädchen weiter zu verschleiern.

Ausserdem kann ich mich nur schwer mit dem Grünstich der Aufnahme anfreunden, auch wenn Grün hier vielleicht die bessere Monochrom-Farbe ist als beispielsweise Sepia. Ich würde mit anderen dunklen Grundfarben experimentieren und vielleicht auch mal ausprobieren, wie das Bild in purem Schwarzweiss mit hohem Kontrast aussieht. Auf jeden Fall ist dies ein bemerkenswerter fotografischer Moment, der es auch verdienen würde, ähnliche Experimente bewusst nach zu vollziehen.

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