Kinder-Situationsporträt: Das Wunderland U-Bahn

Die schönsten Kinderbilder entstehen, wenn sich die Porträtierten nicht beobachtet fühlen und in ihrer Welt versunken sind. Um die Chancen auf das perfekte Bild dieser kurzen Momente zu steigern, bieten sich schnelle Bildserien an.

Leserfoto: Klick für Vollansicht und Kameradaten (© Johannes Siglär).

Kommentar des Fotografen:

Wie wir vor ein paar Tagen im Freibad waren, hat unser Sohn das mit dem „Baden gehen“ zu wörtlich genommen – sprich auch seine normale Straßenkleidung war am Abend völlig durchnässt. Und so musste er eben im Bademantel den Heimweg antreten… Was mir persönlich an diesem Bild besonders gefällt, ist der Blick meines Sohnes. Durch diesen Blick wird offenbar, dass er mit dem Betreten der U-Bahn in eine ganz eigene Welt eingetaucht ist. Eine Welt, die faszinierend, vielleicht aber auch verstörend oder gar einschüchternd auf ihn wirkt. Dieser Interpretationsspielraum macht das Bild – für mich – interessant.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Johannes Siglär:

Ein Kinder-Situationsporträt mit grenzwertiger Stimmung, wie Du richtig bemerkst – die Vermischung seiner inneren mit der äusserlichen Welt spiegelt sich buchstäblich in den Augen des Kleinen – oder seinem Auge (ich komme darauf zurück). Ein schön gelungenes, in weichen, der U-Bahn angemessen dunklen Tonwerten grade richtig abgestuftes Bild.

Der Kleine sitzt oder kniet auf der Bank des Waggons, ein bisschen müde vom Herumtollen, aber noch nicht gesättigt mit Eindrücken. Den linken Arm leicht angewinkelt, bereit, den schwer werdenden Kopf zu stützen, will er auch vom Erlebnis Bahnfahrt nichts verpassen, staunt mit grossen Augen nach links ins Bild und hinaus in die dreckige, laute, mechanische Umgebung der Bahnstation, einem gegenüberstehenden Zug entlang, durch dessen Fenster wir in der Unschärfe das zweite Perron erahnen, während wir erst bei genauem Hinsehen die Spiegelung des Kleinen im hiesigen Waggonfenster wahrnehmen.

Das Bild ist einen Glückwunsch wert – es gehört zu jener Sorte von Kinderfotos, die immer und immer wieder begeistern werden, weil sie mehr zeigen als Goldlöcken und fröhliches Lachen.

Kompositorisch wie technisch lässt sich kaum etwas aussetzen an der Aufnahme – die Aufteilung nach Dritteln ist gelungen, der Gegensatz von Hauptmotiv rechts, wo wir sofort hinblicken, und der Umgebung, die ihm sein Staunen abverlangen und die wir nach einem Streifzug nach links als Bahn erkennen, ist nicht zuletzt durch die weit offene Blende von 1.8 im richtigen Schärfeverhältnis, und die kaum sichtbare, erst bei weiterer Vertiefung ins Bild entdeckbare Spiegelung des Kleinen im Zentrum schafft einen einzigartigen zweiten Blickfang, der noch dazu die eine, ansonsten wohl schon störend wirkende Fläche im Bild aufwertet und wie bestellt als Projektionsfläche wirkt. Der körnige Dreck am Bahnfenster schliesslich, grade noch scharf, schafft einen feinen Vorhang, der drinnen und draussen, die Welt des kuscheligen Bademantels und jene der grollenden, quietschenden Züge auseinanderhält.

Zwei Dinge stören mich, wenn auch erst nach längerem Hinsehen. Einerseits ist der Bildausschnitt oben deutlich luftiger als unten, wo der Arm des kleinen etwas zu eng angeschnitten wird – das Ungleichgewicht liesse sich im Nachhinein mit einem leichten Schnitt am oberen Bildrand ohne Verlust beheben.

Mehr ins Gewicht fällt, dass das rechte Auge des Kleinen nicht ganz verdeckt, aber auch nicht mehr sichtbar ist – die langen Wimpern und ein Mü der Pupille sind noch sichtbar und lenken vom linken, durch einige Glanzlichter übrigens sehr lebendig wirkenden Auge ab.

Es ist einer dieser kleinen Unglücksfälle, in denen eine Person in einem Bild grade blinzelt, den Kopf zurückwirft oder den Mund öffnet, und obwohl alles andere an dem Bild nahezu perfekt ist, wird der kleine Makel erst recht zu einem magischen Anziehungspunkt. Hier stört er mich mit längerem Hinsehen immer mehr und beginnt, das Gesicht schon fast wie eine Verletzung zu malträtieren: Ähnlich den in vielen Anfängerfotos weniger sicht- als spürbaren abgetrennten Gliedmassen.

Das ist einer von zwei Gründen, warum ich in solchen Momenten immer mit der Kameraeinstellung „schnelle Serie“ und damit bei der Nikon D300 mit acht Bildern pro Sekunde mindestens drei Aufnahmen lang auslöse: Diese Aufnahmen liegen bei einem Sechzigstel weit genug auseinander, dass das Blinzeln nur in einem Bild zu sehen ist, aber sie sind zeitlich dicht genug, dass die fotografierte Person nicht noch während der Bildserie auf das Klacken des Auslösers reagiert.

Der zweite Grund liegt in der Schärfe: Selbst bei eigentlich nicht mehr aus der Hand fotografierbaren Verschlusszeiten ist es sehr häufig so, dass ein langsamer Druck auf den Auslöser dazu führt, dass durch das „Abreissen“ der Kamera zwar noch das erste Bild, diejenigen inmitten der Serie aber nicht mehr verwackelt sind.

Natürlich ist es zu viel verlangt, bei einem solchen Stimmungsbild alles bewusst perfekt hinzukriegen, und ich ziehe schon den Hut, wenn Du gegenüberliegende Fenster, Spiegelung und Sohnemann so bewusst komponiert hast – den meistens muss man hier ja abdrücken, bevor der Porträtierte die Fotografin bemerkt.

Ein weiterer Kniff würde allerdings darin bestehen, etwas zu weit rechts, also hinter dem Jungen mit der Serie anzufangen, auf dem Auslöser zu bleiben und mit einer ganz sanften Bewegung nach links im Verlauf des „Seriefeuers“ die Perspektive zu verändern. Damit kriegst Du zu Blinzel-Vermeidung zwar keine „manuelle Verwackelungsstabilisation“ mehr (bei einem Sechzigstel und dem 35mm ohnehin kein Problem), dafür aber eine eine „Kompositions-Garantie“.

Film ist kein Kostenfaktor mehr, und ich empfehle jedem Landschaftsfotografen, keine Chance auf das beste Bild auszulassen und mit Belichtungsreihen zu arbeiten. Das gleiche gilt für solche Fotos: Unsere Kameras sind in der Lage, ein halbes Dutzend oder mehr Bilder pro Sekunde aufzunehmen. Wir sollten uns das zunutze machen. Es gibt keinen Grund, sich das tollste Bild durch ein Blinzeln stehlen zu lassen – oder wie hier die endgültige Perfektion durch einen wenige Millimeter verschobenen Blickwinkel zu verpassen.

Die Freude an diesem wunderbaren Bild würde ich mir übrigens durch die Spitzfindigkeiten irgendeines Erbsenzählers in einem Fotoblog nicht nehmen lassen…

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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2 Kommentare
  1. Johannes
    Johannes sagte:

    Erst mal: Vielen Dank für die ausführliche Besprechung! Und besonderen Dank für den Glückwunsch! :-)

    Das (teilweise) verdeckte rechte Auge hatte ich bislang nicht als Makel gesehen. Das mag daran liegen, dass man es im Spiegelbild ohnehin sehen kann… Aber stimmt schon: Wenn er den Kopf einen Tick mehr in die eine odere andere Richtung gedreht gehabt hätte, wäre das Gesamtresultat (einen Tick?) besser ausgefallen.

    Und auch die Kritikpunkt, dass das Bild am oberen Rand zu „luftig“ ist, kann ich nach eingehender Betrachtung durchaus unterschreiben…

    Durch Bildbesprechungen dieser Art lernt man wirklich „anders zu sehen“. Weshalb ich bald wieder ein Bild einreichen werde… ;-)

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  2. tobi
    tobi sagte:

    Hey Peter, das rechte Auge ist doch offen, sieht man anhand der Spiegelung im Fenster. Mehrere Bilder hätten hier also nichts gebracht… sondern eine Verschiebung des Blickwinkels etwas mehr nach links, damit man mehr vom Auge sieht!

    Gruss
    Tobi

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