Kirschbaumblüte: Die zweite Ebene

Bei minimalistischen Bildern mit grafischen Akzenten liegt alles an der Qualität der Komposition. Die wird hier zusätzlich von einer Pointe auf der gegenständlichen Ebene begleitet.


© Robert Kalb Contax RTS auf Fujichrome, Novoflex f/5.6, 400mm.

Kommentar des Fotografen:

Das Bild ist während der Kirschblütezeit in Fraxern (Vorarlberg) entstanden. Das Bild wurde 1/3 unterbelichtet. Nur ganz früh am Morgen gibt es dieses Streiflicht, somit bleibt der Wald im Schatten.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Robert Kalb:

Ein absoluter Knaller, dieses Bild, und zwar im Sinne des Wortes. Zunächst fliegen einem das satte Grün der Wiese und das dunkle Blau des Himmels um die Ohren, der Blick konzentriert sich auf die im sprichwörtlichen Blütenweiss erstrahlenden Kirschbäume. Das lebt von der minimalistischen Komposition, den Flächen und Farben, mehr ist nicht nötig.

Mehr ist aber vorhanden. Denn das ist kein Himmel:

Das sind Bäume. Doch diese zweite Ebene erschliesst sich erst bei genauem Hinsehen. Und plötzlich erhebt sich im Hintergrund der Wald von Birnam…

Welch raffinierte Wendung in einem vermeintlich rein minimalistisch aufgebauten Bild. Diese Aufnahme kann quadratmetergross an einer Museumswand hängen und böte aus der Distanz die erste, aus der Nähe gesehen eine überraschende zweite, inhaltliche Ebene.

Die Komposition ist dabei durchaus konventionell und setzt strikt auf den goldenen Schnitt. Der grüne Keil des Hügels läuft aus dem untersten Drittel des linken Bildrands ausreichend „unsauber“ in einer Diagonalen in die untere rechte Ecke; die beiden Kirschbäume brechen die grüne Kante im Zweidrittel-Verhältnis und die Schattenzonen des Hügels teilen dessen Fläche ebenfalls im Drittelsverhältnis auf. Bei genauem Hinsehen findet sich noch ein weiterer Keil im vermeintlichen Himmel, der von der Schnittstelle des Hügels unten links mit einem leichten Schattenverlauf genau in die rechte obere Ecke verläuft.

Das ganze Bild besteht so eigentlich aus fünf oder sechs Flächen, die alle im Verhältnis 1:2 miteinander korrespondieren. Trotzdem wirkt nichts flach, weil die harten Schatten im Hügel und an den Kirschbäumen zwar ebenfalls flächig wirken, aber den Objekten eine räumliche Form verleihen. Da passt alles, wie wenn es von selbst so hingefallen wäre.

Um vor Ort das Verhältnis der Linien und Flächen im Ausschnitt zu sehen, kann man zur Schulung des Auges zum Beispiel mit einer Kartonschablone im Seitenverhältnis des Bildes bei zusammengekniffenen Augen eine einfache Visualisierung vornehmen. Oder man hat den Notizblock dabei und zeichnet sich die Linien kurz auf.

Auch als Ölbild ansprechend......und anhand der Konturen vereinfacht.Zu Hause nutze ich für die Kontrolle minimalistischer Kompositionen gerne einen der „künstlerischen“ Filter der Grafiksoftware – etwa „Ölgemälde“ oder „Konturen“: Sie reduzieren das Bild weiter auf Farben und Flächen oder Linien entlang der Helligkeitsgrenzen und vereinfachen eine Beurteilung der Verhältnisse von Farben und Flächen zueinander ohne zusammengekniffene Augen bei voller Bildgrösse und ohne ablenkende Details. Wenn das Bild in diesem Filter einen Haufen isolierter Flecken und Unruhen aufweist, stimmt wohl etwas mit der Komposition oder den Helligkeitsverhältnissen nicht.

Du hast hier schon bei der Aufnahme mit einer leichten Unterbelichtung dafür gesorgt, dass die Farben in kräftigem Kontrast zueinander stehen und die Schatten zwar absaufen, dadurch aber die Flächenbetonung weiter unterstreichen. Zugleich leuchten dank des Kontrasts die Blüten in den Bäumen wohl auch auf Papier, als ob sie von links hinten von der Sonne durchstrahlt würden.

Und dann ist da, bei näheren Herantreten, dieser Wald, dunkelblau und mit leichter Zeichnung, der noch einen Blick und noch einen verlangt, weil sich der Betrachter ungläubig fragt, ob denn der Wald überhaupt so blau sein kann. So gewinnt das Bild, das schon auf Distanz Aufsehen erregt hat, aus der Nähe plötzlich eine zweite Qualität.

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