Klischees: Fluch und Segen

Grossartige Motive haben einen Nachteil: Sie sind milliardenfach fotografiert worden und zum Klischee mutiert. Sein eigenes Bild davon anzulegen ist schwierig, aber dank des unerschöpflichen Vergleichsmaterials eine fruchtbare „Hausaufgabe“ mit starkem Lerneffekt.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Christof Eugster).

Kommentar des Fotografen:

Während einer USA-Reise machte ich einen Ausflug zum Antelope Canyon. Dieser ist zwar relativ kurz, die Lichteffekte sind dafür einmalig und mit jedem Schritt wieder anders.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Christof Eugster:

Wer könnte da widerstehen? Du spazierst durch eines der hervorragend erschlossenen, atemberaubenden Naturwunder des amerikanischen Westens (oder Ostens, Nordens oder Südens) und erlebst ein Schauspiel, das in Natur den Touristenströmem zum Trotz eben doch überwältigender wirkt als auf allen Fotos. Und den Moment möchtest Du festhalten.

Das ist Dir hier im Antelope Canyon gelungen:

Die Aufnahme zeigt die Lichteffekte und die weichen Kurven des Sandsteins, für die der Canyon in Arizona weltberühmt ist (und die durch den aufgewirbelten Staub in der Luft besonders gut zur Geltung kommen). Mit einer Kompaktkamera ist das unter den herrschenden Kontrastverhältnissen sicher nicht leicht abzulichten, und selbst mit HDR wäre es wohl ein Ding der Unmöglichkeit (oder unerwünscht), die Lichtflecke am Boden nicht ausbrennen zu lassen.

Deine Aufnahme ist ein gelungenes Erinnerungsbild mit einem einmaligen Motiv, sauber umgesetzt – und es hätte in keinem fotografischen Wettbewerb eine Chance.

Warum? Weil das Motiv so einmalig und unwiderstehlich fotogen ist, dass es nicht nur milliardenfach fotografiert worden, sondern den meisten Betrachtern längst ins Hirn gebrannt ist: Es ist zum Klischee geworden. Wer es betrachtet, vergleicht es unweigerlich mit den „besten“, sprich den spektakulärsten Ansichten des gleichen Motivs, die er oder sie schon gesehen hat. Wirf nur einen Blick auf die Wikipedia-Seite über den Antelope-Canyon, und sofort fällt auf, dass die abgebildeten Fotos Deinem sehr ähnlich, aber doch deutlich kontraststärker und bewusster komponiert scheinen – dabei dachte ich im ersten Augenblick sogar, das Hochformat oben rechts sei der gleiche Standpunkt wie Dein Bild.

Heisst das nun, dass man solche Motive nicht mehr fotografieren kann? Das wäre wohl eine Selbstbeschränkung, die grade uns Amateuren jeden Fortschritt verbauen würde. Das Gegenteil trifft zu: Klischees sind die vielleicht kostengünstigste Version der Auto-Bildkritik, die es gibt. An einem Ort wie diesem ein herausragendes Bild zu schiessen, eine einmalige Perspektive oder eine ganz neue Komposition hinzukriegen, ist so schwierig wie irgendwo sonst, aber nirgends gibt es besseres Vergleichsmaterial, an Hand dessen Du die häufigsten „Fehler“ oder die raffiniertesten Tricks der Profis erkennen kannst.

Ich hätte nicht geglaubt, dass ich je auf ihn verweisen würde, aber ob man den kommerziell überaus erfolgreichen Landschaftsfotografen Peter Lik mag oder nicht (er hat weltweit über ein Dutzend „Gallerien“ für seine leuchtstarken Grossformatfotos, vier oder fünf davon allein in Las Vegas und drei auf Hawaii): Der Australier hat den Dreh raus, jedes Klischeebild noch eine Stufe weiter zu drehen und ein Bild zu kreieren, das sowohl fotografisch perfekt erscheint und dabei den Durchschnittsgeschmack bedient, zugleich aber durch kleine Merkmale haarscharf am ultimativen Kitsch vorbeischrammt (nun, darüber liesse sich streiten). Hier in Liks Bild „Ghost“ (von dem ich annehme, dass es aus dem Antelope Canyon stammt – zweites von rechts obere Reihe), erkennst Du zwei Dinge: Die extreme Farbe (die angesichts des Sonnenstandes nichts mit Abendlicht zu tun hat) und den „Geist“, der im Staub in der Lichtsäule erscheint und dem Bild den Titel und eben den besonderen „Dreh“ gibt.

[bildkritik]

Meine Bewunderung gilt weit weniger Liks fotografischer Arbeit als seinem Marketing-Genie und der Kompromisslosigkeit – der Mann teilt sogar seine Online-Galerien nicht nach Thema, sondern nach Hoch- und Querformat auf, im Wissen darum, dass Kunden meistens ein Bild suchen, das einen bestimmten Platz in der Wohnung füllen soll… Man muss ihn nicht zum Vorbild nehmen, aber das Rezept seines Erfolgs enthält eine einfache Lektion: Er inszeniert Wohlbekanntes auf seine Art so, dass der Wiedererkennungseffekt von einem „Wow“-Effekt gesteigert wird.

Lik ist vielleicht ein extremes Beispiel für das, was George Barr in seinem Buch über Klischees sagt: Man sollte nicht vor ihnen zurückschrecken, sondern den Ehrgeiz entwickeln, ein eigenes Bild davon zu kreieren. Georges erfolgreichster Print ist diese Aufnahme des Leuchtturms von Peggy’s Cove (Deutsche Google-„Übersetzung“) und im Gegensatz zu Lik, der daraus ein Geschäft macht, ist dies für George Anlass zu leiser Enttäuschung über den Publikumsgeschmack. Er nutzt es als Beispiel für einen kreativen Ausbruch aus den Trampelpfaden. Geh vor allen andern hin, such einen neuen Standpunkt, einen anderen Schwerpunkt, fotografier im Regen, betrachte das Motiv als Herausforderung. Und doch:

Klischees treffen meist den Publikumsgeschmack, und ehrlich gesagt ist es kein Verbrechen, an Leuten Geld zu verdienen, die einfach zu verstehende Bilder klassischer Szenen bevorzugen. Es ist wohl kaum mehr Prostitution als sich in der Werbefotografie zu betätigen.

An Deinem Bild gibt es nicht sehr viel auszusetzen. Vielleicht wäre es etwas stärker ohne die sichtbaren Ausschnitte des Himmels, die noch dazu Farbsäume aufweisen; vielleicht hättest Du die Perspektive deutlich höher oder tiefer anlegen können. Die Schichtung der Tiefe funktioniert durch die unterschiedlichen Helligkeitsgrade der beiden Felsvorsprünge in der rechten Bildhälfte ganz gut. Aber alles in allem sticht es nicht durch deine Fotografie, sondern durch das Motiv heraus.

Deswegen würde ich es jetzt als Lehrstück nehmen: Surf ein bisschen im Internet und such nach Bildern vom Antelope Canyon, und Dir werden Dutzende von Ideen, Details und Inszenierungen auffallen, die Dein Bild ohne grossen Mehraufwand hätten verbessern können.

Das geht mit eigenen Fotos deswegen viel besser als mit blosser „Fremdbetrachtung“, weil Du die Umstände einschätzen kannst, das Licht und die Örtlichkeit und die möglichen Perspektiven kennst – und dadurch schneller verstehst, was der Kollege oder die Kollegin anders oder besser gemacht hat.

7 Kommentare
  1. Jürgen Schulte
    Jürgen Schulte sagte:

    Wenn jemand bis hierhin noch Zweifel am Sinn und Unsinn dieses Blogs hatte, dann dürften die nunmehr endgültig beseitigt sein! Spitzenkommentar! Summa cum laude!

    Antworten
  2. Puppet Master
    Puppet Master sagte:

    Ging mir wie Thorsten, den Canyon kannte ich bis zu dem Foto auch noch nicht.

    Zur Kritik nur so viel. Finde es super das es das hier gibt und wie man die einzelnen Bilder bewertet. Vor allem der Vergleich mit Fotografen die ein gleiches Motiv anders betrachtet haben bringt einen als Fotograf weiter.

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  3. Thorsten Olbrich
    Thorsten Olbrich sagte:

    Also ich kannte den Antelope Canyon jetzt auch noch nicht und hab auch noch nie ein Bild davon gesehen. Aber ich beschäftige mich ja auch nicht so lange mit Fotografie wie andere hier. Was ich aber gut finde ist der Tipp des Vergleichens mit anderen Fotos vom gleichen Motiv. Die Bildkritiken sind echt 1+

    Gruß
    Thorsten

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  4. Zippo
    Zippo sagte:

    Hmm, also „Antelope Canyon“ und die entsprechenden Bilder waren zumindest mir bislang unbekannt. Wirklich universale Klischeebilder gibts, glaube ich gar nicht sooo viele.
    Trotzdem sehr interessanter Artikel!

    Viele Grüße von Zippo!

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  1. […] Blick durch die Brückenbögen kennt man schon, respektive hat schon irgendjemand da aufgenommen. Ideen haben da ja alle. Aber egal: Mit einem Vordergrund wird das Bild meiner Ansicht nach erstens spannender, […]

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