Künstlerinnen-Porträt: Abbild eines Dialogs

Situationsporträts sind eine extreme Herausforderung, weil sie dem Modell auf weit mehr als einer Ebene gerecht werden müssen. Eine komplexe Aufgabe mit unzähligen Fallgruben.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Ulrich Brodde).

Kommentar des Fotografen:

Im September 2008 hatte ich Gelegenheit einer Künstlerin bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen, und ich durfte sie auch fotografieren. Sie arbeitete am Tonmodell einer Büste von Thor Heyerdahl. Die Konzentration der alten Dame (91), die völlige Hingabe an ihre Arbeit und ihre sensible Handhabung des Materials haben mich fasziniert. Bei diesem Foto habe ich versucht den inneren Dialog der Künstlerin mit ihrem Modell darzustellen sowie die durch ihre Hände entstehende Verbindung. Die schwarz/weiß-Version habe ich gewählt, damit Künstlerin und Büste im gleichen ‚Farb’ton zu sehen sind um somit die Verbindung zu betonen.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Ulrich Brodde:

Auf den ersten Blick eine faszinierende Aufnahme mit vielschichtiger Intimität, der zur Perfektion leider einige Punkte fehlen:

Wir gucken der Künstlerin buchstäblich über die Schulter, arbeiten gewissermassen mit am Kopf des entstehenden Thor Heyerdahl – und modellieren sozusagen grade sein Auge. Die Konzentration der Künstlerin überträgt sich auf den Betrachter, der zwischen der Plastik und ihrere Schöpferin hin- und herpendelt und dabei zwei Wesen zu erfassen sucht. Wir werden Zeugen eines stummen Dialogs.

Ein Glücksfall für die Aufnahme (oder eine scharfsinnige Idee des Fotografen) liegt in der konkreten Haltung der Finger und der Tatsache, dass der Modellierspachtel sich direkt im Auge der Plastik befindet: Der „Eingriff“ in das Organ, mit dem wir grade am Vorgang teilhaben, löst eine zusätzliche Betroffenheit aus, und unwillkürlich blinzelnd wollen wir sofort erfassen, was die Reaktion des Tonkopfs ist – der tatsächlich auch beinahe zu blinzeln scheint…

Deine Entscheidung, das Bild in schwarz/weiss umzuwandeln, scheint mir ebenfalls goldrichtig: So ist auf den ersten Blick auch nicht sofort zu erfassen, dass es sich links um ein Modell handelt, und der Eindruck von Nähe zweier Menschen, der sich bei Betrachtung aus den Augenwinkeln sofort eingestellt hat, bleibt unterschwellig bestehen. Ausserdem werden die unterschiedlichen „Gesichtslandschaften“ der beiden Köpfe betont.

Die Bildaufteilung und die Wahl des Ausschnitts bietet durch die Diagonale zwischen den Blickrichtungen von Künstlerin und Plastik schliesslich ebenfalls eine gewisse Spannung. Allerdings stört mich hier das angeschnittene Kinn der Büste – nur ein, zwei Zentimeter mehr, und wir hätten zwei vollwertige Profile im Bild.

Die Belichtung scheint mir leicht zu hoch, zu den ausgebrannten Stellen an der rechten Hand der Künstlerin und im Hintergrund gesellt sich ein zu tiefer Anteil an Schwarz- und dunklen Grauwerten, was indes in der Dunkelkammer-Software leicht korrigiert werden kann.

Nichts zu machen ist dagegen gegen den Hintergrund, dieses schwarze Gebilde, das ein Blumenstrauss zu sein scheint: Exakt im Negativen Raum zwischen den beiden Köpfen, lenkt es durch seine unruhige Struktur doch erheblich ab. Im Nachhinein sagt sich das so leicht – aber Du hättest das vor Ort sehen und die Vase woanders platzieren können. Damit wäre es automatisch auch zu einer anderen Tonwertverteilung im Bild gekommen.

Der gröbste Mangel an diesem so einfühlsamen Bild aber ist die zu geringe Schärfentiefe auf deinem eigentlichen Motiv. Es ist klar, dass Du auf die Hände der Künstlerin fokussiert hast – und dort muss auch Schärfe vorhanden sein, denn wir wollen wissen, was sie genau tut. Wenn Du aber wie hier Ihr Gesicht einbeziehst und dadurch die Beziehung zwischen Auge und Hand und zwischen Modell und Künstlerin herstellst, darf ihr Gesicht nicht ausserhalb des Schärfebereichs liegen.

Die Frau sitzt offensichtlich näher an der Kamera als die Plastik; die Schärfe liegt in ihrem Gesicht nur gerade auf dem rechten, grade noch hinter der unscharfen Nase sichtbaren Brillenglas. Das wirkt sehr irritierend, weil wir nach dem ersten Blick auf den Kopf der Plastik automatisch zum Gesicht der Küntlerin schauen, die Verbindung zwischen dem von ihr modellierten und ihrem eigenen, von der Zeit modellierten Gesicht herstellen und dann ihrem konzentrierten Blick zurück zur Büste folgen wollen.

Möglicherweise hätte es gereicht, wenn Du den Fokuspunkt von der Spachtelspitze auf den Rücken der linken, uns näherliegenden Hand der Künstlerin verlegt hättest: Die Schärfentiefe beginnt ja vor dem Fokuspunkt, reicht aber deutlich über ihn hinaus in die Bildtiefe.

Um die Schärfentiefe, sofern nötig, stärker zu erhöhen, hättest Du hier zwei Möglichkeiten gehabt: Die Blende von 2.8 um einen oder zwei Stufen zu schliessen, was eine Anpassung der Verschlusszeit auf einen 160stel oder 1/125s nötig gemacht, aber die Aufnahme aus der Hand noch gut erlaubt hätte (namentlich bei unseren modernen Bildstabi-Objektiven). Angesichts der Tele-Brennweite von 135mm bei vollem Kleinbildformat der EOS 5D hättest aber auch einfach ein wenig näher herangehen und dafür die Brennweite auf den gleichen Ausschnitt verkleinern können. Beides hätte indes den Nachteil, dass die Freistellung – die Unschärfe des Hintergrunds – leicht verringert worden und damit der störende Eindruck des Blumenstrausses gesteigert worden wäre.

Der stört mich allerdings deutlich weniger als der Mangel an Schärfe im Gesicht der Künstlerin.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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7 Kommentare
  1. Antje
    Antje sagte:

    Probleme mit Hintergründen kennt wohl jeder, denn die lassen sich teilweise leider nicht „umbauen“. Da muß man halt gucken, ob man damit leben kann.

    Was die Tiefenschärfe angeht, stimme ich der Kritik voll zu, denn mich stört die fehlende Schärfe auf dem Auge auch … Wobei der Begriff „stören“ schon etwas hart von mir gewählt ist, denn trotz allem ist die festgehaltene Szene natürlich sehr faszinierend und fesselt den Blick.

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  2. Frank
    Frank sagte:

    @Lieber Peter und lieber Ulrich.

    Es sollte von mir keine Kritik an der Kritik sein, das steht mir auch nicht zu.

    Zwei Sachen:
    Meiner Meinung nach muss ein Bild nicht perfekt sein.
    Ok, dass ein Fotograf sich mit den Einstellungen seiner Kamera auseinandergesetzt hat, setze ich nun mal voraus. Sehe ich mir beispielsweise die neue Serie von Lagerfeld an, so könnte man auch einiges bemängeln, obwohl er ein Team von elf Helfern bei seiner letzten Serie von der Berlinale dabei hatte.
    Ich studiere grade ein Fotobuch von Michael Clinton -***7 Continents-
    Sehe ich mir die Fotos an, so hätten es auch Schnappschüsse mit der Kompakten sein könnnen: Sie sind teilweise schief, unscharf, unterbelichtet etc.
    Wahrscheinlich nennt man das auch die Freiheit des Künstlers.
    Deshalb, lieber Peter, steht Deine Kritik außer Frage.
    Ich bleibe bei meiner Meinung: Das Foto ist toll und ein wahrer Hingucker.
    Von mir aus gibt es -auch nach langer Betrachtung- so gut wie nichts zu bemängeln.

    Gruß an alle!

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  3. Ulrich Brodde
    Ulrich Brodde sagte:

    frank, danke für dein kompliment zu meinem foto.

    angesichts der vielen automatikprogramme mit denen die digitalen kameras heutzutage ausgestattet sind, könnte man wirklich meinen, dass blende, verschlusszeit, brennweite und das wissen um deren zusammenspiel nicht mehr so wichtig sind.

    das sehe ich anders, denn ich gestalte meine bilder lieber selbst als dies von einem automaten vorgeschrieben zu bekommen. und die bildbearbeitung ist die zweite hälfte der bildgestaltung. sie macht oft den unterschied aus zwischen einem schnappschuss und einem foto, das aussieht wie ein schnappschuss und dennoch einen ganz besonderen zauber hat.

    einer der berühmtesten fotografen des letzten jahrhunderts, henri cartier-bresson, beschäftigte einen ganzen stab von laboranten, die stundenlang in der dunkelkammer seine fotos, die oft aussehen wie schnappschüsse, verbesserten.

    und wie sehr ich die detaillierte bildbesprechung von peter schätze, erkennt man hoffentlich an meiner antwort darauf.

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  4. Peter Sennhauser
    Peter Sennhauser sagte:

    @ Frank: Niemand verbietet Dir, mit Schnappschüssen glücklich zu werden. Aber wenn jemand uns ein Bild zur Kritik zur Verfügung stellt, hat er Anspruch auf eine detaillierte, möglichst objektive oder wenigstens sachliche Analyse. Wir betrachten es als unsere Aufgabe, die weniger positiven Bildteile aufzuzeigen. Aus „Ah!“ und „Oh“ lernt nämlich niemand was.

    Ich halte Blende, Verschlusszeit und Brennweite nicht für „so technisch und kompliziert“, sondern für Grundlagen der künstlerischen Fotografie. Dass die inzwischen als weniger massgeblich und erwähnenswert gelten als ein „zu klonender Hintergrund“ halte ich für eine problematische Entwicklung des Digitalkamerazeitalters – und eigentlich doch genau ein Symptom dessen, was Du beklagst?

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  5. Frank
    Frank sagte:

    Hallo,

    Blende hin und Tiefenschärfe her.
    Bevor es ganz kompliziert wird: Das Foto ist toll, ein Hingucker.
    Ok, den Hintergrund hätte man etwas „einfarbiger“ stempeln oder klonen können aber sonst ist das Foto klasse.
    ob jetzt noch etwas vom Kinn unten oder sonstwas zu sehen ist, ist doch vollkommen wurscht!!
    macht es nicht immer alles so technisch und kompliziert.
    ich glaube so manch einer macht für 2 Sekunden ein Foto, stellt und probiert aber 10 Minuten an der Kamera rum und dann noch anschließend ne halbe Stunde mit dem Bildbearbeitungsprogramm. Obs dann auch besser wird?! Lieber einen tollen Schnappschuss, der nicht so perfekt ist, als dieses künstliche rumdocktern und manipulieren zu Hause am Rechner! Dann kann ich mir doch gleich ein Bild malen! Gruß

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  6. Ulrich Brodde
    Ulrich Brodde sagte:

    Zunächst vielen Dank für die ausführliche, präzise und faire Bildbesprechung.

    Mein folgender Kommentar soll keinesfalls der Rechtfertigung sondern der Erläuterung dienen.

    Wegen der zu geringen Schärfentiefe habe ich mich auch schon geärgert. Auf dem Kameradisplay war diese als solche nicht zu erkennen, beim nächsten Mal weiß ich es besser und arrangiere lieber den Hintergrund (wenn es denn geht)zu Gunsten einer geschlosseneren Blende.
    In diesem Fall ging es nicht, denn die „Vase“ war ein an der Wand hängendes Bild. Ein Abbruch des shootings und Abhängen des Bildes hätte wohl die Konzentration der Künstlerin ge- und die Faszination des Augenblicks zerstört. In dem Moment habe ich aber auch nicht weiter darüber nachgedacht.

    „Augen“blick – der Modellierspachtel im Auge der Büste war tatsächlich ein intiutiver Glücksfall. Keineswegs hatte ich im Moment des Auslösens die von Peter geschilderten Gedanken im Kopf.

    Das angeschnittene Kinn der Büste ist sicherlich zu bemängeln. Allerdings ruhte dieses direkt auf einem hässlichen Stabilisierungspodest. Mit auf dem Bild hätte es m. E. die Illusion der Zwiesprache zweier „echter“ Menschen zerstört.

    Das Korrigieren von Bildfehlern mit der Dunkelkammer-Software ist eine meiner Schwächen – ich arbeite daran (ungern, weil es dabei mehr um Technik als um Gefühl geht).

    Alles in allem zeigt sich, dass Peter mit den „unzähligen Fallgruben“ Recht hat. In einige bin ich getappt.

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  7. Stefan
    Stefan sagte:

    Hi Peter!

    Stimme Dir zu, die zu geringe Schärfentiefe ist ein Problem.

    Leider passiert mir sowas auch immer wieder und komme erst dann drauf, wenn es zu spät ist: Am heimischen Monitor. Habe mir zwischenzeitlich sogar einen DOF/HFD-Rechner für’s Handy besorgt, mit welchem ich mir – vorausgesetzt die Zeit erlaubt es – die ideal Blende ausrechne.

    Doch in Momenten, wo für so einen Schnickschnack keine Zeit bleibt, sich das Model/Motiv ständig bewegt, der Hintergrund sich der Kontrolle entzieht und vielleicht auch noch schwierige Lichtverhältnisse vorherrschen, passiert so ein Fehler sehr schnell. Sogar wenn ich mit Blendenprio fotografiere. Dann noch die Sache mit dem AF – ein Unding bei DSLRs 100mm (KB 150+)
    – Zeitautomatik (Av)
    – AF Spotmessung
    – Spot-Belichtungsmessung
    – ISO 100 (je nach Licht vielleicht 200)
    – Anti-Shake (!)

    Mein Workflow bei diesem Bild wäre:
    1. Offenblende (in meinem Fall 2.8)
    2. Brennweitenjustierung für Bildausschnitt
    3. Belichtungsmessung auf Gesicht der Künstlerin (AE-L)
    4. Fokus auf Auge der Künstlerin (halten)
    5. Komposition des Bildes
    6. Auslöser
    7. Kontrolle der Belichtung am Display
    8. Kontrolle der Schärfentiefe am Display (Zoom!)
    9. zurück zu 1.

    Nach max. 3 Bildern sollte alles passen.

    Gruß,
    Stefan

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