Kunstfoto: Orpheus & Euridyke

Kunstfotos, die sehr viel Vorbereitung und inhaltliches Engagement verlangen, verdienen erst recht eine perfekte Umsetzung.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Kerstin Koletzki).Kommentar des Fotografen:

Berlin, 2008, junges Mädchen, Akt (aus Serie), analoge Aufnahme, Kleinbild

Profi Sofie Dittmann meint zum Bild von Kerstin Koletzki:

Bei Kunstfotos kommt es auf Kreativität, Individualität, und darauf an, wie ein Thema, dem sich die Fotografin gewidmet hat, fotografisch umgesetzt wurde. Das Ziel ist Kunst zu schaffen, etwas, das über das Dargestellte hinaus geht. Profifotografen arbeiten oft in Serie an Themen, mit denen sie sich emotional und auf anderen Ebenen auseinandersetzen. Das ist hier sehr gut gelungen. Es ist ein Foto, das man länger betrachten will als nur einen Augenblick. Allerdings sollten auch Kunstfotos korrekt ausgeleuchtet werden, weil sonst Teile der Bildaussage verloren gehen (hier im wesentlichen Details des Rückens).

Laut Webseite der Fotografin ist das Foto ein Teil einer Serie, die sie „Orpheus & Euridyke“ nennt:

Orpheus war der griechischen Legende nach ein begnadeter Leierspieler und Sänger, der, nachdem seine Frau Euridyke unter tragischen Umständen zu Tode kam, so traurige, melancholische Lieder spielte, daß sich selbst Hades erweichen ließ: Orpheus durfte sie wieder in die Oberwelt mitnehmen, aber unter der Bedingung, daß er sich nicht nach ihr umdrehte, bis sie aus der Unterwelt gekommen waren. In seiner Besorgnis, daß sie nicht hinterher kommen könnte, drehte er sich dennoch um, als er oben angekommen war. Euridyke war aber noch nicht aus der Unterwelt getreten, und so holte sie Hades wieder zurück – dieses Mal allerdings für immer.

Weiße Lilien stehen generell für etwas Königliches, Himmlisches, für Reinheit, Keuschheit, Majestät, Unschuld. Bei diesem Euridyke-Bildnis bildet die Lilie das bestimmende gestalterische Element im oberen Teil des Bildes, direkt über dem den Bildmittelpunkt bildenden Rücken. Sie läßt die Komposition dynamisch erscheinen, obwohl das Modell direkt in der Mitte des Bildes steht. Der linke Arm des Modells ist nicht zu sehen, und das ist das einzige, was mich an der Komposition wirklich stört. Irgendwie fehlt links etwas.

Zum Technischen: den anderen Fotos der Fotografin in dieser Serie konnte ich entnehmen, daß sie generell in dieser Serie Unterbelichtung als Stilelement einsetzt. Gesichter, wie auch Haare und andere Elemente werden teilweise oder fast vollständig verschluckt. Auch wenn ich persönlich ein anderes tonales Spektrum bevorzuge und der Meinung bin, daß das Foto gewonnen hätte, wenn die Schatten nicht in vollständiges Schwarz verwandelt worden wären, ist daran grundsätzlich nichts auszusetzen. Es ist experimentell, bricht gekonnt Regeln, und paßt zum Thema Unterwelt, Hades, Tod.

Der Rücken des Modells wurde direkt und von unten rechts ausgeleuchtet (allerdings mit diffuser Lichtquelle), während ihr Gesicht fast vollkommen im Schatten liegt. Die Haare und andere dunkle Elemente werden vom schwarzen Hintergrund vollständig verschluckt.

Durch den Bildaufbau steht der Rücken des Modells im Mittelpunkt des Bildes, aber aufgrund der Beleuchtung sind leider Nuancen gerade des Rückens verloren gegangen, die das Foto noch ansprechender gemacht hätten. Speziell bei Aktaufnahmen kommt es darauf an, die Linien, Kurven etc. des Körpers durch Beleuchtung dreidimensional in Szene zu setzen. Dabei wird bei Schwarzweißbildern das ganze Grauspektrum ausgenutzt. Selbst die Aktfotos von Edward Weston, Immogen Cunningham oder Lee Friedlander, die mir immer etwas zu brutal offen waren, stellen den menschlichen Körper auf diese Weise gekonnt dreidimensional zur Schau.

Hier wirkt der Rücken des Modells zweidimensional, die erwähnten Kurven und Linien, etwa angedeutet in der Mitte, sind ausgebleicht. Auch die Lilienblüte hat durch die Beleuchtung an Details eingebüßt, und das Bild wirkt nach unten hin sonderbar zweidimensional, wogegen es oben mehr Tiefe hat. Das ist schade, tut es doch dem an sich sehr schönen Porträt einen gewissen Abbruch.

Ansonsten ist das Foto, wie bereits erwähnt, meines Erachtens schön fotografiert, sehr tiefgründig und kreativ, und mit Ausnahme des fehlenden linken Armes gut in Szene gesetzt.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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4 Kommentare
  1. dierk
    dierk sagte:

    Hallo Kerstin und Sofie,
    für mich ist hier sehr interessant die sehr unterschiedliche Sichtweise und das Erleben so eines Bildes zwischen Frau und Mann. Ich bin hier vielleicht typisch mit meiner rationalen, technischen Sicht (ich bin/war Ingenieur:-). Für mich steht die Ästhetik eines Bildes an herausragender Stelle und deshalb meine Anmerkung zur Schärfe. (ich weiss, Ästhetik ist nicht unbedingt ein scharfes Bild und umgekehrt).
    Bei meinen Fotos weigere ich mich immer, überhaupt einen Titel zu vergeben (es ist ein Bild und soll für sich sprechen), auf der anderen Seite ist es sehr interessant, was du dir alles bei dem Bild gedacht hast, Kersin. Vielen Dank dafür und die vielen Anregungen auf deiner Website, wie man Fotos auch machen kann. Sicher werde ich mich mal daran versuchen:-)

    Sehr schade finde ich, dass du die Bilder auf deiner Website nicht zum Vergrössern anbietest! So könnte man/ich sich viel mehr auf das einzelne Bild konzentrieren, ohne von den anderen abgelenkt zu werden.
    viele Grüsse
    dierk

    Antworten
  2. Sofie Dittmann
    Sofie Dittmann sagte:

    @Kerstin Vielen Dank für Deine ausführliche Antwort. Ich war mir des Experimentellen des Bildes bewußt, als ich die Kritik geschrieben habe – genau das hat es ja so interessant und spannend gemacht. Solche Fotos bekommen wir nicht oft. Und auch die anderen Fotos auf Deiner Webseite gefallen mir sehr gut.

    Was ich eigentlich mit den Vergleichen zu Weston et al. sagen wollte, war, daß auch bei Akten, die so belichtet wurden, die Details noch da waren – ansonsten hast Du recht, sie haben alle nichts miteinander zu tun. Und insofern hinkt der Vergleich auch. Dein Modell ist so grazil, ich persönlich hätte es schön gefunden, wären die Details erhalten geblieben.

    Aber, wie Du bereits ganz richtig bemerkt hast: man kann alles ausprobieren. Jedenfalls ist Deine Seite mittlerweile in meinen Lesezeichen.

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  3. Kerstin Koletzki
    Kerstin Koletzki sagte:

    Hallo Sofie, hallo Dierk,
    vielen Dank für Eure Eindrücke…
    Auch wenn man nichts Genaueres über die Geschichte von Orpheus und Eurydike wüsste (danke Sofie für die Kurz-Zusammenfassung), assoziiert der symbolische Titel an sich: Mann/Frau, ein Paar, ein Liebespaar, Mythologie, Tragik, Schmerz, unerfüllte Leidenschaften…
    Die Fotos der Serie – alle Bilder sind Einzelbilder – haben eigentlich gar nichts miteinander zu tun, in der Gesamtheit gesehen, allerdings den gleichen Tenor:
    Sie sollen Geschichten, über sich hinaus, erzählen. Gelingt das, ist es gut. Die Transzendenz, frei von Zeit und Raum, ist Sinn und Zweck. Die Bilder, die beim Betrachter im Kopf entstehen, Verknüpfungen zu Kunstwerken, Literarischem, Erlebtem, Sehnsüchten; sind entscheidend. In meinen fotografischen Arbeiten setze ich mir kein übergeordnetes Thema auf und bereite dann sorgfältig Inszenierungen vor, um bestimmte Passagen zu interpretieren. Die Aufnahmen entstehen – mehr oder weniger – spontan, bei Tageslicht, ohne zusätzliche künstliche Beleuchtung.
    Bei der – nennen wir sie „Nymphe“- gefällt mir gerade die Form und auch die Zeichnung des Rückens. Wie eine Erscheinung wendet sie sich ab, die Augen geschlossen – der Vertrauensbeweis, als würde sie der Arie des Orpheus lauschen…, die Lilie über den Rücken schwingend, in sich versunken, (das Gesicht noch etwas nachbelichtet + flächige Anmutung = bewusst).
    Inspirationen, die ich im Kopf habe, kommen aus der Malerei: Tizian, Frà Bartolomeo, Vermeer, japanische Holzschnitte von Kunisada, aber auch Fotografien von: Man Ray, Yamamoto Masao sind wunderbar.
    Die Aktbilder von Edward Weston stehen im Kontext mit seinen Aufnahmen von Bäumen und Landschaften (Dünen). Für ihn steht dabei die Stofflichkeit, Strukturen und die Körperlichkeit auch an erster Stelle. Lee Friedlander kommt aus der Streetfotografie. Bei den fleischigen Aktporträts (Madonna) schwingt viel vom frontalen Blick auf die Straße mit.
    Es gibt kein Patentrezept für die absolute Choreografie eines Bildes. Bei Aktaufnahmen kommt es auch nicht unbedingt darauf an, die Linien und Kurven des Körpers durch Beleuchtung dreidimensional in Szene zu setzen. Über das bloße Abbilden hinaus, machen Unschärfe, Zufälligkeiten, Licht/Schatten, Sonnenlicht, Unter- und Überbelichtungen, Verwackelungen und Metamorphosen; Fotografien spannend + lebendig – man kann alles ausprobieren…

    Kerstin Koletzki

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  4. dierk
    dierk sagte:

    Hallo Kerstin,
    das Motiv ist toll.
    Es gibt 2 Dinge, die mich stören:
    1. es ist selbst in dieser geringen Abbildung überall sehr unscharf, sicher gewollt?
    2. die Mitte des Rückens hat sehr viel Licht. Wenn der Rücken dunkler wäre, nicht ganz so dunkel wie das Gesicht, und die Lilie das meiste Licht hätte, würde es für mich erheblich mystischer aussehen.

    In deiner Galerie finde ich viele Bilder, die mich sehr ansprechen, vielen Dank
    und viele Grüsse
    dierk

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