Linde mit Stockhorn: Gibt es zu viel Harmonie?

Zu viel Harmonie und zuviel Beachtung der Regeln können ein Bild sterilisieren.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Marcel Zaugg).

Kommentar des Fotografen:

Linde mit Stockhorn Aufgenommen im Juni 2004 auf dem Uttiggut, Bern, Schweiz an einem wunderbaren, warmen Abend.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Marcel Zaugg:

Eine grosse, grüne, saftige Linde in einem knallgelben Kornfeld vor einer glasklaren Kulisse der Schweizer Alpen unter einem blauen Himmel mit Schäfchenwolken. Die Beschreibung des Bildes klingt fast zu perfekt.

Und so ungern ich das sage:

Das ist es auch. Nicht im Sinne von Kitsch – diese Fotografie hat einen klaren künstlerischen Anspruch, und sie ist keine billige Überzuckerung. Technisch und kompositorisch ist vielmehr eigentlich alles so, wie es sein soll: Die Belichtung stimmt, die Beleuchtung auch – es ist später Nachmittag oder früher Abend, die Linde ist nach der Drittelsregel in der rechten Bildhälfte und höchstens vielleicht etwas zu vertikal mittig angeordnet; die Berge im Hintergrund sind gestochen scharf und ohne harten Kontrast inklusive Spitzbeleuchtung inszeniert. Die Linien im Korn ziehen den Blick von der Linde rechts vorne nach links zu den Bergen hinten.

Aber trotz alledem vermag das Bild nicht wirklich zu fesseln. Auf den ersten Blick zieht das fast unnatürliche Gelb der Kornähren im Kontrast zum Blau der Berge und des Himmels einen an.

Aber danach ist nichts mehr zu entdecken, und die perfekte Harmonie der Motivelemente wird zur Monotonie: Baum – Kornfeld – Berge – Himmel. Es fehlt ein Widerhaken: Die Elemente des Bildes sind alle sowohl alleinstehend eine Fotografie wert, aber hier wirken sie vielleicht grade durch die gleichmässige, den Regeln entsprechende Anordnung nicht kumulierend, sondern stehen in Konkurrenz zueinander. Dadurch geht leider auch die Tiefe des Bildes verloren. Jedes Motivteil liegt isoliert in einer eigenen Ebene und scheint kaum mit den anderen Verbunden zu sein.

Dabei hast Du mit dem Einbezug des Kornfeldrands einen Vordergrund geschaffen, der zum Mittelgrund der Linde in den Hintergrund der Berge führen müsste. Dazu verlaufen aber zu viele Linien horizontal, und es gibt nichts, was die Tiefenelemente verbindet. Die Linde zum Beispiel ist nicht erkennbar mitten im Kornfeld, sondern klebt an dessen Horizontlinie. Ein nur wenig erhöhter Standort hätte das vielleicht abschwächen und den Stamm der Linde vom Gelb des Korns umspülen lassen können.

Regeln sind nicht nur da, um gelegentlich gebrochen zu werden; wir müssen auch aufpassen, dass wir sie nicht zu strikt einhalten, denn sonst können sie kontraproduktv wirken und eine Komposition „sterilisieren“. Das ist, meine ich, hier ein wenig der Fall, wo die Linien so eindeutig abgegrenzt, die Farben so klar und die Beleuchtung so perfekt ist, dass sich die Elemente voneinander zu lösen beginnen und statt einer Gesamtstimmung eine Sammlung wunderbarer Objekte entsteht.

Und weil das alles wahrscheinlich vernichtend harsch klingt schiebe ich die Feststellung nach, dass mich das Bild in der Vorschau sofort gereizt und angezogen hat, was die erste und wichtigste Qualitätsprüfung ist. Auf die Gefahr hin, dass das missverstanden werden kann: Als Pflicht erfüllt dieses Bild seine Aufgabe bestens, als Kür reicht es nicht für eine gute Note.

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3 Kommentare
  1. Schtonk!
    Schtonk! sagte:

    Naja, also wenigstens verwackeln oder fehlbelichten hätte der Fotograf ja wohl können!!!!

    Aber immerhin ist es vorne unscharf. Also Kür nicht ganz verfehlt!

    :-))))

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  2. skip
    skip sagte:

    So ungern ich das sage: Die Kollegen aus der Stock-Foto-Abteilung hätten das Bild sicher in den Himmel gelobt, richtig?
    (nicht, dass das eine Wertung ist …)

    Antworten

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