Luftaufnahme: Den Kopf leeren

Mit der Kamera Details entdecken, die man mit blossem Auge fast übersehen hätte – das gelingt unter anderem durch den erzwungenen Ausschnitt des Suchers. Aber zu häufig steht uns die eigene Vorstellung eines Motivs im Weg.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Michael Görmann).
Kommentar des Fotografen:

Das Bild entstand beim Überflug des Amazonas-Beckens aus rund 300m Höhe. Nein, Quatsch, es entstand aus ziemlich genau 1,75m Höhe am Strand von San Francisco (ehrlich). Könnte aber auch überall anders gewesen sein, und genau deshalb habe ich es gemacht. Ohne Wasserlinie fehlt jeglicher Größenbezug. Das gefällt mir.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Michael Görmann:

Einmal mehr wird hier deutlich, was ich immer wieder aufs neue lernen muss: Die besten Motive kann man leicht übersehen, weil man nach etwas anderem sucht.

Dieses Bild ist nicht nur spannend, weil nicht zu erkennen ist, worum es sich genau handelt. Licht, Schatten und Glanz schaffen ein organisch anmutendes Muster, dessen Perfektion uns wie so vieles in der Natur in den Bann zieht.

Dir ist gelungen, es in einer ansprechenden Komposition abzubilden. Das ist alles andere als selbstverständlich:

Nur zu schnell denken wir beim Betrachten solcher Aufnahmen nämlich, ausser der Wahl des Ausschnitts stecke nichts mehr dahinter. Ein Zufallstreffer also.

Die gibts, aber sie wirken selten so vollkommen wie dieses Bild hier. Dazu gehört Arbeit, der kreative Prozess, das gefundene Motiv richtig in Szene zu setzen. Man stelle sich vor, wie dieses Bild aussähe, wenn Du im 90-Grad-Winkel von oben fotografiert hättest, oder in einem viel flacheren Winkel dicht über die Oberfläche hinweg, oder…

Die Diagonale der „Flussverläufe“ von links unten nach rechts oben macht hier das Bild, zusammen mit den am „Horizont“ glänzenden Wasserflächen am oberen Bildrand. Zusammen mit einigen ähnlich komponierten und ähnlich rätselhaften Bildern, die sich auf organisch anmutende Muster konzentrieren, Material für eine Serie.

Die unbeantwortete Frage ist indes immer noch die, wie man zu solchen Motiven kommt. Meine Antwort würde lauten: Durch Training und bewusste Bearbeitung einer Szenerie.

Ich bin weit davon entfernt, dieses Feld zu beherrschen, aber ich bin mir des Problems bewusst: Wer an den Strand fährt, sucht häufig nach „Strandfotos“. Dünen, Sonnenuntergänge, Menschen, Paare, angespülte Muschel vor sanften Wellen… Klischees eben, denn alles andere können wir ja vor dem Besuch am Strand nicht im Kopf haben. Entscheidend ist, ob ich mich bei der Ankunft von diesen fixen Ideen lösen kann, die Bilder aus dem Kopf rauswerfe und das auf mich wirken lasse, was ich sehe.

Dann entdecke ich plötzlich das Amazonasbecken vor mir im Sand, ein grossartiges Farbspiel in vier nassen Kieselsteinen, die perfekten Spuren eines Sandkrebses. Ich ertappe mich häufig dabei, wie ich diese Dinge zwar aus dem Augenwinkel wahrnehme, und mir dann selber im Weg stehe: Ich kann doch nicht am Strand die Maserung eines ausgebleichten Stücks Treibholz fotografieren – das könnte ja überall sein, und dazu bin ich doch nicht an diesen Strand gekommen?

Das ist blanker Unsinn – denn wie Dein Bild hier beweist, haben die besten Aufnahmen häufig scheinbar nichts zu tun mit der Szenerie, die wir uns für ein Shooting ausgesucht haben. Die Betonung liegt dabei auf dem Wort „scheinbar“. Denn dieses Bild könnte wohl, wie Du sagst, überall aufgenommen worden sein. Aber Du hast es dort, am Strand von San Francisco, gesehen, Du hattest genau dort und grade dann das richtige Licht, und Du hast das gesehen und damit zu arbeiten begonnen.

Das unterscheidet wohl den Künstler vom Techniker: Der kreative Prozess, der durch die Umgebung erst in Gang gesetzt wird. Wer mit einem Bild im Kopf an eine Szene herangeht, wird im allerbesten Fall mit diesem Bild in der Kamera heimkehren – häufig aber mit etwas, was sich davon unterscheidet und seine Vorstellung nicht befriedigt.

Wer hingegen alle Bilder aus dem Kopf verbannt und das wirken lässt, was vorhanden ist, hat ein Füllhorn an Möglichkeiten und wird Dinge entdecken und weiterentwickeln können, die andere noch nicht einmal sehen.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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