Mehr Vordergrund!
Langweiligen Bildern fehlt häufig nur eines: Tiefe. Die könnte ein wenig Vordergrund leicht schaffen.
Eigentlich gibts hier nicht viel zu sehen: Ocean Beach in San Francisco, 30 Minuten nach Sonnenuntergang. Das wogende Gras und die Lichteffekte im Sand ziehen dennoch ins Bild hinein. (18/36mm, f/8, 1.1s bei ISO 400 – © PS)
Er schaffte es immer wieder: Die Bilder des jungen Pressefotografen der regionalen Tageszeitung, wo ich mein Volontariat absolvierte, waren niemals langweilig. Selbst wenn er eine politisch umstrittene Bauparzelle ablichten musste, er kam stets mit Aufnahmen an, die einen zweiten oder dritten Blick verlangten.
Weil ich es nicht selber rausfand, hatte er schliesslich ein Einsehen und verriet mir das Rezept:
Trixie war müde und liess sich vom Tennisball nicht mehr locken
(200/300mm, f/5.6, 1/200s, ISO 100 – © PS)
Fast jedes Bild gewinnt durch einen Vordergrund – auch, wenn der mit dem eigentlichen Motiv nahezu nichts zu tun hat. In seinen Bildern übernahmen Zaunpfosten, geparkte Fahrräder oder spielende Kinder und verwischte Fussgänger die Nebenrolle, durch die das an sich langweilige Motiv überhaupt erst Räumlichkeit erlangte.
Das Rezept könnte simpler nicht sein. Dennoch bin ich zwanzig Jahre später noch immer am Üben.
Aber bisweilen erinnere ich mich während des Shootings an den Grundsatz, und die Resultate sind eindeutig. Nehmen wir dieses alltägliche Beispiel, zu finden wohl in jedem zweiten Urlaubsalbum: Junge Frau am Strand.
Kathy, Ocean Beach (95/142mm, f/5.6, 1/30s bei ISO 400 – © PS)
Die Aufnahme ist ganz in Ordnung; abgesehen von einer leichten Unschärfe als Resultat einer zu langen Belichtungszeit (Zeitautomatik), sie entstand rund 20 Minuten nach Sonnenuntergang an Ocean Beach in San Francisco.
Nur: Genau davon ist nichts zu sehen. Das Bild könnte an jedem Strand der Welt und praktisch zu jeder Tageszeit bei Bewölkung entstanden sein. Kathy ist so langweilig ins Zentrum gerückt, dass der Betrachter schon fast aus Protest nach andern Bildaspekten sucht (und auf das Paar stösst, das an Kathys Kopf zu kleben scheint). Die Grashalme im Vordergrund heben sich nicht ab von der Ebene mit dem Hauptmotiv.
(80/120mm, f/5.6, 1/80s bei ISO 400 – © PS)
Diese Aufnahme unterscheidet sich von der ersten fast ausschliesslich durch eine Veränderung der Kamerahöhe um fünfzig Zentimeter und eine schneller Verschlusszeit (Matrixmessung; heller Himmel). Trotz einer kürzeren Brennweite verschwimmt hier das Gras im Vordergrund und schafft eine zusätzliche Bildebene.
Die Bemühung um einen Vordergrund hat mich automatisch zu einer radikal anderen Bildkomposition geführt. Und grade weil jetzt viel mehr Szenerie sichtbar und die Stimmung durch den Nebel und das Restlicht in den Hügeln der Marin Headlands spürbar wird, rückt Kathy viel weniger aufdringlich ins Zentrum der Aufnahme, die Tiefenebenen führen den Blick zu ihr hin. Die Grashalme im Vordergrund schaffen eine angenehme, schon fast voyeuristische Distanz zum Motiv.
Bucht an der Küste Kaliforniens bei Mendocino
(55/82mm, f/7.1, 1/180s bei ISO 100 – © PS)
Manchmal muss man nehmen, was an Vordergrund zur Verfügung steht – in diesem Beispiel der Küste bei Mendocino, CA, gab es nur einen einzigen möglichen Standort, und der Nebel wallte binnen einer Minute in die Bucht. Ein Blick durch den Sucher ohne die trockenen Büsche zeigte ein kontrastarmes, flaches Bild. Also verkürzte ich die Brennweite und nahm sie mit.
Notebook-Demontage. HP-Recyclingcenter (18/27mm, f/4.0, 1/40s bei ISO 800 – © PS)
Grade bei Bildreportagen lädt die Tiefenschärfe zu ausgeprägten Experimenten ein – erstens, weil in dunklen Werkshallen wie diesem Recycling-Center von HP bei Sacramento ohnehin mit grosser Blende fotografiert werden muss, andrerseits, weil man damit den Blick vermeintlich diskret auf Details lenken und „ganz nebenbei“ Menschen unkenntlich machen kann.
Ich komme auf die Überspitzung des Effekts zurück.
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