Mittelformat: Mehr Aufwand und -sehen

In seiner Wahlheimat Shanghai hat Blogger Lukas Hadorn nicht nur die Fotografie entdeckt – sondern auch eine analoge Mittelformatkamera: Die «Seagull» oder «Haiou». Erfahrungsbericht einer Liebesbeziehung (Teil II).

Von Lukas Hadorn, Shanghai (zu Teil I)

Blick in die Mattscheibe der Seagull (© Lukas Hadorn)
Der Blick in die Zauberbox (© Lukas Hadorn)

Zu Beginn war ich natürlich völlig aufgeschmissen. Wie öffnet man das Teil? Wo kommt der Film rein? Und was für ein Film? Wie soll ich den einspannen, und wie bewegt er sich vorwärts?

Nachdem ich die Basisfunktionen einmal erlernt hatte, stellte sich das nächste Problem: Ist ja schön und gut, wenn man Verschluszeit und Blende manuell einstellen kann – aber auf welche Werte? Ich suchte im Internet, fragte bei alten Hasen nach und lernte Weisheiten, die einem längst vergangenen Zeitalter der Fotografie zu entstammen schienen („Die Sonne lacht – nimm Blende 8“). Ich befand mich auf einem Retro-Trip der Fotografie und liebte jeden Moment daran:

Alles echt. Alles ich. (© Lukas Hadorn)
Alles echt. Alles ich. (© Lukas Hadorn)

Dies ist eines der ersten Bilder, das ich ohne jedes Hilfsmitel mit der Seagull gemacht habe. Obwohl die Schärfe etwas zu wünschen übrig lässt, erfüllte mich das Bild mit einem Stolz, den ich bis dahin nicht gekannt hatte. Und das schlicht und einfach deshalb, weil an dem Bild alles echt ist. Alles ich. Alles selbst gemacht. Kein Lichtmesser, keine Elektronik, keine Hilfsmittel.

Abgesehen von ein paar kümmerlichen Versuchen in der Dunkelkammer während der Schulzeit hatte ich nur die digitale Fotografie gekannt. Das Gefühl, sämtliche Komponenten eines Bilds (abgesehen von der Entwicklung natürlich) selbst zu bestimmen, war einmalig. Und es ist ja nicht so, dass man unzählige Versuche hätte. Auf einen Rollfilm passen maximal 16 Fotos, und da ich lieber im quadratischen 6x6cm-Format fotografierte, waren es sogar nur 12.

Raucher. (© Lukas Hadorn)
(© Lukas Hadorn)

Ich war nun ständig mit der Seagull unterwegs. Als Hilfsmittel nahm ich jeweils meine DSLR mit, die als Lichtmesser diente (ab und zu verschätzt man sich halt eben doch). Das Tolle am Fotografieren mit einer solchen Kamera sind (abgesehen von einem gesteigerten Gefühl kreativer Schöpfungskraft) die Reaktionen der Leute. In Shanghai kennen viele Menschen die Seagull aus ihrer Kindheit und lassen sich viel lieber damit porträtieren als mit einer grossen, respekteinflössenden DSLR.

(© Lukas Hadorn)(© Lukas Hadorn)

Im Gegensatz zu Streifzügen mit der DSLR sind die Seagull-Exkursionen anstrengender, hektischer. Hat man ein Motiv vor Augen, muss zuerst das Licht gemessen, dann sämtliche Einstellungen vorgenommen, die Kamera ausgerichtet werden, und bis dahin ist das Motiv meist verschwunden.

Schräg eingezogener Film mit Doppelbelichtung. (© Lukas Hadorn)
Schräg, dafür doppelt. (© Lukas Hadorn)

Als Anfänger ist man auch vor dummen Fehlern nicht gefeit. Als ich zum ersten Mal mit einem Farbfilm fotografierte, zog ich den Film ganz leicht schräg auf die Spule, was zur Folge hatte, dass er nicht satt eingerollt wurde und beim Herausnehmen belichtet wurde.

Auch unabsichtliche Doppelbelichtungen sind an der Tagesordnung: Vergisst man den Film zwischen zwei Aufnahmen vorzuspulen, belichtet man dasselbe Stück zwei Mal, was zwar zu interessanten Kompositionen führen kann, das Bild in der Regel aber halt doch ruiniert. Ich hatte sogar das Kunststück geschafft, einen Film schräg einzuziehen UND doppelt zu belichten, was dieses kleine Kunstwerk entstehen liess.

Auch nachts war ich inzwischen schon mit der Seagull unterwegs. Ilford hat einen Rollfilm mit Lichtempfindlichkeit (ISO) 3200 im Angebot, mit dem man in der Dunkelheit ohne Blitz fotografieren kann.

Ilford, ISO 3200: Nächtliches Porträt (© Lukas Hadorn)Ilford ISO 3200 (© Lukas Hadorn)
(© Lukas Hadorn)

Inzwischen hat mein Freund David, ein Profifotograf aus Cincinnati, damit begonnen, alte Seagulls weiterzuverkaufen. Er stöbert sie auf Trödelmärkten auf, reinigt, repariert und testet sie, und verkauft sie an Leute weiter, die eine Abwechslung brauchen von der auf Perfektion ausgerichteten Digitalfotografie (mehr Infos dazu gibt es auf www.chinablog.ch). Die Resonanz – sowohl bei Expats als auch bei ausländischen Foto-Touristen – ist gewaltig. Es scheint fast, als stehe uns nach der digtialen Revolution eine analoge Konterrevolution ins Haus.

Ich hätte nichts dagegen.

Lukas Hadorn (30) ist Journalist und Blogger aus der Schweiz. Er lebt seit Anfang 2008 in Shanghai und berichtet in (meist umwerfend komischem) Wort und (zunehmend beeindruckendem) Bild als Lu Hai Rui aus seiner Wahlheimat.

6 Kommentare
  1. Lukas
    Lukas sagte:

    Danke für die positiven Kommentare, das freut mich. Seagull-Export. Nicht, dass ich noch nie daran gedacht hätte. ;-) Schicken Sie mir ihre E-Mail-Adresse, dann halte ich Sie im Fall der Fälle auf dem Laufenden…

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  2. Boris
    Boris sagte:

    Lukas Hadorn darf jederzeit wieder hier bei fokussiert schreiben. Und gerne auch damit starten, Seagulls in die Schweiz zu exportieren.

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  3. Besim Mazhiqi
    Besim Mazhiqi sagte:

    Ich kann mich nur anschließen: Dieser Beitrag macht Lust auf Analog. In letzter Zeit treibe ich mich mit der russischen FED5 rum, was kein Vergleich zur Haiou ist, aber auch viel Spaß macht.
    Die Fotos sind einfach klasse. Habe den Blog auch gleich abonniert!

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  4. bosch
    bosch sagte:

    Das ist großartig. Vielen Dank für diesen hochinteressanten Erfahrungsbericht und die wunderbaren Photobeispiele.

    Das Chinablog habe ich natürlich auch gleich abonniert.

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  1. […] ich das tue und darüber blogge (auch an dieser und dieser Stelle), erhalte ich immer mal wieder Mails von Leuten, die mehr über das Thema […]

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