Mohnblütenfoto: Verführung statt Zwang

Ausbleichen und Weichzeichnen sind starke Effekte, die deswegen mit Mass angewandt werden wollen.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Andrea Schneider).

Kommentar des Fotografen:

Eines meiner liebsten Sommermotive. Objektiv: das Canon 100-400 bei 400mm. Beschnitten, entsättig. Die Tiefenschärfe verringert, obwohl die 400mm und f5,6 eh schon gering war.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Andrea Schneider:

Eine Mohnblüte in einem grünen Feld, stark weichgezeichnet im Zentrum eines fast quadratisch geschnittenen Bildes. Im Hintergrund sind in der Unschärfe weitere Mohnblüten erahnbar. Auf der Blüte sitzt, bei genauem Hinsehen zu erkennen, eine Hummel.

Ein sehr impressionistisches Bild, das wir – wohl erworben aus der Anwendung in Filmen – mit Illusion oder Traum zu assoziieren tendieren.

Sehr gut funktioniert hier die Entsättigung der Farben, welche das Grün der Wiese auf eine feine Pastellfarbe reduziert, dabei aber die Leuchtwirkung des Klatschmohns nicht herabmindert.

Eine starke Vignettierung der Effekte – Unschärfe ebenso wie Entsättigung – rückt das Motiv noch stärker ins Blickfeld des Betrachters. Ein bisschen sorgt das ganze für den Eindruck eines Tunnelblicks. David Hamilton, der „Weichzeichner“-Fotograf, soll für solche Effekte unter anderem einen Nylonstrumpf übers Objektiv gezogen und mit einer Zigarette ein Loch hineingebrannt haben – ob es sich dabei um eine „urban legend“ handelt, weiss ich indes nicht.

Im Prinzip handelt es sich, wie Du selber ja bemerkst, um eine Übersteigerung des Schärfentiefen-Effekts: Allerdings wird dabei die Schärfe statt auf eine bestimmte Tiefenebene des Bildes zusätzlich auf einen festlegbaren Ausschnitt innerhalb dieser Ebene reduziert. So soll der Blick des Betrachters noch eindeutiger auf das Motiv gelenkt und eine „Freistellung“ erreicht werden, die rein optisch eigentlich nicht möglich ist: Beim Betrachter stellt sich eben deswegen das Tunnelblick-Gefühl ein, wie wenn man etwas mit fast ganz geschlossenen Augen oder kurz vor Verlust des Bewusstseins sieht.

Weil der Effekt aber eine solch starke Wirkung hat, muss er meines Erachtens sehr sorgfältig angewandt werden. Schon die geringe Schärfentiefe ist ein gewaltiger Eingriff in die Bildgestaltung; sie lässt dem Betrachter keine Wahl und setzt einen zwingenden Schwerpunkt. Das ist in zwei Fällen Wünschbar: Bei Makro- oder extrem-Tele-Aufnahmen, bei denen ein Objekt aus den Tiefenebenen herausgelöst werden soll oder in Situationen, in denen ein Individuum aus einer Menge von Dingen und isoliert („freigestellt“) werden soll.

Das ist hier der Fall – Du hast mit dem Extrem-Tele eine Mohnblüte im Feld isoliert, wolltest aber zeigen, dass es sich um ein Element einer Gruppe in einem grünen Feld handelt.

Ob man nun dazu über die geringe Schärfentiefe des Teles noch einen Weichzeichner-Effekt einsetzt, ist Geschmackssache.

Ausgehend von der Komposition allerdings halte ich es hier für etwas zu viel des Guten: Mit dem Quadratschnitt und dem Hauptmotiv im Bildzentrum richtest Du bereits alle Blicke dorthin. Eine weitere Blickführungshilfe braucht die Betrachterin eigentlich nicht. Aber auch diese Zentrierung wäre nicht zwingend gewesen, und die Muster der unscharf im Hintergrund liegenden Blüten hätten sich eigentlich für eine weniger zentristische Komposition angeboten.

Zudem hättest Du die Blüte durch eine leichte Verschiebung Deines Standpunkts vor dem grünen Hintergrund statt direkt vor den in Bokeh-aufgelösten Blüten auf „natürliche Weise“ noch besser freistellen können. Der Vorteil läge darin, dass der Betrachter des Bildes fast gleich stark zum Objekt des Interesses hingeführt würde, aber weniger genau erklären könnte, warum.

Ferner wirkt bei genauer Betrachtung der Weichzeichner-Effekt geradezu brutal, indem nicht nur das weitere Umfeld in der gleichen Tiefenebene, sondern sogar Teile des Objekts selber, der Blüte ebenso wie des Stils und der feinen Gräser daneben, sich auf unerklärliche Weise in der Unschärfe auflösen.

Das wirkt sehr unnatürlich, weil diese Teile in der Ebene der Schärfe liegen. Der Blütenstiel taucht nicht räumlich aus der Unschärfe- in die Schärfenebene, sondern verschwindet aus unfassbaren Gründen in der Unschärfe. Weniger wäre hier mehr.

Schliesslich noch ein Wort zur Hummel in der Blüte: Auch das ist Geschmackssache, aber sie würde sich als „Entdeckung“ anbieten, die erst auf den zweiten Blick im Bild zu sehen ist und die Betrachterin für ihren Untersuchungsgang ins Bild „belohnt“. Weil hier aber mit so vielen starken Elementen der Blick ohnehin zur Blüte gezwungen wird, ist die Hummel weniger Belohnung als ein wenig frustrierend, weil sie mehr zu erahnen als wirklich zu sehen ist.

Und weil das alles jetzt in der Summe ziemlich vernichtend klingt, möchte ich relativieren: Dies ist ein auffälliges Bild, das mit einigen spannenden Effekten arbeitet. Aber es würde noch viel stärker wirken, wenn jeder einzelne von ihnen, inklusive der Zentrierung des Bildes, um vielleicht 30 Prozent gemindert würde.

Es lohnt sich eigentlich immer, alle Elemente und Effekte, welche die Bildabsicht unterstützen sollen, auf ihre Stärke zu prüfen und tendenziell abzuschwächen – ihre Wirkung wird dadurch erhöht.

Denn die Menschen werden viel lieber verführt als zu etwas gezwungen.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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3 Kommentare
  1. Vera Nagel
    Vera Nagel sagte:

    Bild und Bildkommentar erzählen eine Geschichte die sehr stimmig ist und mich für einen Moment in den Zustand eines guten Kinofilms versetzte.Der letzte Satz des Fotografens bestimmt eine Haltung, die es gilt m.E. in die Welt zu bringen, in die Fotografie, als auch in unseren täglichen Alltag.Die Haltung der Welt gegenüber, bestimmen die Bilder die wir sehen.

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