Naturfotografie: Sehtraining im Freien

Auf der Suche nach dem grossen Überblick übersehen wir oft die Details, die ein eigenes Bild ergeben.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Stephan Mentzner).

Kommentar des Fotografen:

Dieses Bild eines Calla-Blattes ist an einem wettermäßig wechselhaften Tag enstanden. Zum Aufnahmezeitpunkt herrschte eine geschlossene Wolkendecke und ich musste die ISO auf 400 hochdrehen, so dass ich bei Blende 3,5 und einer Belichtungszeit von 1/160 mit meinem 100mm F2,8 Makro, Reihenaufnahme, eine nahezu verwackelungsfreihe Aufnahme (ohne Stativ – das war anderweitig unterwegs…) hin bekam. Ich war mit Freunden unterwegs und stand zeitlich ein wenig unter Druck, deshalb freute es mich bei der Nachbearbeitung besonders, ein für mich doch sehr (grafisch) ansprechendes Bild abgelichtet zu haben. Mit mehr Zeit hätte man noch etwas am Schärfeverlauf/Bildausschnitt arbeiten können, mit der Farbgebung bin ich soweit zufrieden.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Stephan Mentzner:

Ein rot-lila Pflanzenblatt biegt sich in dieser Farbfotografie in leichtem Schwung von links oben nach rechts unten. Die Adern bilden klare Linien, welche die Aufnahme in vier Sektoren trennen; ausserdem sorgt der Lichteinfall dafür, dass jeder Teil des Blattes eine leicht andere Tönung hat. Im Zentrum der Aufnahme aber stehen Wassertropfen, die auf der Oberfläche perlen, und die mit minimaler Schärfentiefe so erfasst wurden, dass von links oben nach rechts unten ein Band von scharf abgebildeten Tropfen entsteht.

Derzeit nehme ich in Hawaii an einem Workshop für Landschaftsfotografie teil, und nach den ersten beiden Shootings ist mir wieder klar geworden, dass der Weg zum Sehen über die kleinen Dinge führt. Stephan Metzners Aufnahme eines Blattes macht das deutlich: Die Pflanze an sich ergäbe zweifellos ein lohnendes Motiv, aber Du hast Dich dafür entschieden, einen Ausschnitt mit einfachen Linien, knalligen Farben und einem Spannungselement in Form der Wassertropfen aufzunehmen.

Das funktioniert hier sehr gut, weil das Blatt neben Linien und Form auch noch Farbvariationen bietet und die Wassertropfen die geringe Schärfentiefe voll zur Geltung bringen. Die Aufnahme ist sehr plastisch, wäre aber ohne die Wassertropfen wohl nur halb so einprägsam.

Das verdeutlicht, dass das Sehen so viele Schichten hat wie die Realität: Zuerst muss man sich für die Makroaufnahme entscheiden und dann am Motiv die lohnendste Perspektive finden, die mehr ist als nur ein Ausschnitt aus dem ganzen. Das ist Dir, vor allem wenn Du noch unter Zeitdrucks standest, sehr gut gelungen.

Ich kämpfe hier gerade mit just diesem Problem und komme einmal mehr zur Erkenntnis, dass der Wiedereinstieg in die Landschaftsfotografie am besten durch Isolierung geschieht. Die Landschaft ist nämlich häufig nicht nur überwältigend schön, sondern für einen Fotografen buchstäblich überwältigend, indem es schlicht nicht möglich ist, das „ganze Paket“ in eine Komposition zu bringen: Die Bilder sind rasch überfüllt, fransen an den Rändern aus und zeigen ganz einfach nicht das, was ich vor Ort wahrgenommen habe.

Mit kleineren Motiven und der Suche nach dem Detail lässt sich dieses Problem aus dem Weg schaffen. Voraussetzung ist, dass man neben dem Weitwinkel auch das Tele oder Makro im Rucksack hat und anfangen kann, sich zunächst auf die Reduktion spannender Details zu konzentieren. Die Belohnung sind neben gelungenen Bildern wie diesem hier ein stetig sich erweiterdes Sehen, dessen Blickfeld sich langsam wieder an die blitzschnelle Komposition von Gesamtansichten anpasst.

Das soll keineswegs heissen, dass es einfacher ist, gute Makrofotos zu machen – es ist aber vom Ablauf her strukturierter und erlaubt es, Fehler und Fehleinschätzungen schön der Reihe nach auszuschalten.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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6 Kommentare
  1. Dr. Thomas Brotzler
    Dr. Thomas Brotzler sagte:

    Respekt zunächst dafür, daß Dir diese Makroaufnahme freihändig und offenblendig so gut, mit einem gut definierten Schärfefokus, gelang. Dies ist schon eine Leistung, wie jeder weiß, der sich an der Makrofotografie einmal versuchte.

    Du schreibst: „Mit mehr Zeit hätte man noch etwas am Schärfeverlauf/Bildausschnitt arbeiten können“, und so empfinde ich es ebenfalls.

    Die von links unten ausgehende Unschärfepartie erschwert die Blickführung des Betrachters durch das Bild. Er muß quasi in der Bildmitte einsteigen, blickt dann entlang der Schärfezone und verliert sich in der beidseitigen Unschärfe. Da das Motiv als solches nicht gegen einen definierten Hintergrund abgesetzt ist, verbleibt möglicherweise eine Irritation bzw. Verwirrung beim Betrachter. Soweit einige Hypothesen zur Betrachtungspsychologie als Diskussionsbeitrag von meiner Seite …

    Ach ja, Uwe hat wirklich recht: was soll bitte das leere Gejubele ohne konstruktiven Beitrag zu Bildanalyse? Wir sind doch hier nicht bei der Fotocommunity …

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  2. Sandra MK
    Sandra MK sagte:

    Ich finde die Aufnahme auch sehr gelungen, vor allem unter Zeitdruck und ohne Stativ! Besonders gefällt mir die Farbe, weil man sich eigentlich ein grünes Blatt erwartet. Wie du selber schreibst, hättest du mit mehr Zeit am Schärfeverlauf gearbeitet. Ich hätte auch die Schärfe ein wenig nach vorne erweitert (Übergang Unschärfe-Schärfe ist mir ein wenig zu abrupt/stark). Aber das nur ein kleiner Punkt am Rande, toll gesehen!

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    • Stephan Mentzner
      Stephan Mentzner sagte:

      Ersteinmal möchte ich mich für die doch recht positive Kritik bedanken… Danke! Also, ich bin selbst kein großer Fan von Bildbearbeitung, aber um mir selbst alle Möglichkeiten offen zu lassen, wird nur im RAW-Format fotografiert. Ich bearbeite meine Bilder nur mit Lightroom – und ich war zum ersten Mal froh, dass es eine automatische Tonwertkorrektur gibt – sonst wäre dieses Foto nie so konvertiert worden. Die Farben waren recht flach im RAW – hatte bei der Nachbearbeitung, wirklich völlig vergessen, dass die Calla rotes Blattwerk hatte. Das Bild hier ist also keine Verfremdung, sondern hätte bei der richtigen Wahl des Weißabgleiches, von vorn herein diese Farbe gehabt. Zum Schärfeverlauf – bei mehr Zeit – hätte ich versucht ihn weicher bzw. sanfter verlaufen zu lassen. Hier ist er doch sehr abrupt bzw. ungleichmäßig. Möchte mir auch irgendwann ein Tilt-Shift-Objektiv kaufen, um den Schärfeverlauf besser gestalten zu können. Ob dies dann besser klappt sei dahin gestellt, aber ich gehe davon aus. An Erfahrungen mit solchen Objektiven bin ich sehr interessiert.

    • Uwe S.
      Uwe S. sagte:

      @Sven: Ich habe nichts gegen deine Vorlieben, frage mich aber, wie die Kenntnis derselben, Fotografen und Leser weiter bringen sollen. Wir erfahren weder, wie du das Bild wahrnimmst, noch welche Assoziationen es in dir auslöst, lediglich, dass es deinen Geschmack trifft. Gut das Stephan die Kamera dabei hatte …

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