Regelbrüche: Den Pfeffer dosieren

Fotografische Regeln können und sollen manchmal gebrochen werden. Das muss allerdings Sinn machen und im richtigen Mass erfolgen.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Andrea Gerber).

Kommentar des Fotografen:

Dieses Foto entstand bei einem Spaziergang. Wenn ich die Kamera dabei habe, drehe ich mich öfters mal zurück, um eine neue Perspektive auf die gerade passierte Landschaft zu bekommen. Und da fiel mein Blick sofort auf diesen geschlängelten Weg. Viel bearbeitet habe ich es nicht, nur Kontraste erhöht, in S/W umgewandelt und ins Quadrat gebracht. Mir gefällt es am Besten mit fettem weissen Rahmen drumherum, den habe ich für euch aber weggelassen.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Andrea Gerber:

Ein Feldweg schlängelt sich in diesem quadratischen Schwarz-Weiss-Bild in drei Mäandern durch eine hochsommerliche Wiese. Am unteren Bildrand formatfüllend, zieht sich das Band der Fahrspuren, zwischen denen etwas Gras wächst, mittig in den Bildhintergrund. Dort ist ein Waldrand und der stark nach links kippende Horizont erkennbar.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Kategorisierung „Landschaftsfotografie“ hier ideal ist, aber bis zu einem gewissen Grad definiert die Einteilung ja auch die Absicht der Fotografin.

Die Aufnahme hat auf jeden Fall einen attraktiven Blickfang:

Starke Tiefenwirkung ist ein Kriterium für wirksame Landschaftsaufnahmen. Durch den geschlängelten, fühlbar in die nahe Distanz führenden Weg ist diese Wirkung gegeben; die relativ niedrige Perspektive, die dafür sorgt, dass der Feldweg das Bildformat am unteren Rand ausfüllt, verstärkt die Fluchtpunktwirkung zusätzlich. Der gekippte Horizont sorgt für ein gerade passendes Mass an „Verwirrung“, das die Aufmerksamkeit des Betrachters festhält.

Er ist indes in der Landschaftsfotografie ebenso ungewöhnlich, um nicht zu sagen regelwidrig, wie die geringe Schärfentiefe. Auch sie unterstützt hier die Tiefenwirkung. Die Aufnahme wird zum Fenster in eine Landschaft.

Du arbeitest in dieser Fotografie mit dem Bruch der Regeln und damit der Erwartungen: Ein Sommerbild, das ohne Farben auskommt; ein gekippter Horizont und schliesslich eine sehr geringe Schärfentiefe. Alle drei Dinge sind unzweifelhaft Absicht.

Sie erreichen den Effekt, den Du anstrebst, und machen das Bild zu einem Hingucker. Ich habe trotzdem eine grundlegende Kritik anzubringen.

Die geringe Schärfentiefe ist, wie mehrfach erwähnt, in der Landschaftsfotografie eher verpönt, weil es sich dabei um Bilder handelt, die vom Betrachter erkundet werden sollen. Eine weit geöffnete Blende wird dagegen meistens in Situationen angewandt, wo es aufgrund der Lichtverhältnisse nötig ist (Strassenfotografie) oder wo die Blickführung ausserordentlich stark auf einen ganz bestimmten Punkt im Bild konzentriert werden soll.

Hier allerdings trifft das nicht zu. Zwar ist es durchaus reizvoll, die starke Linienführung des Wegs durch einen Verlauf in die Unschärfe zu stören. Das ist aber ein Nebeneffekt der grossen Blende. Mit einer dermassen minimalen Schärfentiefe setzt Du einen Akzent, der wichtiger und stärker wird als die Unschärfe im Hintergrund.

Das Problem daran ist, dass Erwartungen geweckt werden. Die Betrachterin muss jetzt davon ausgehen, dass der mäandrierende Weg nur der sehr gelungene Hintergrund für einen wichtigeren, erst auf den zweiten Blick erkennbaren Blickfang ist, der durch die Schärfentiefe angezeigt wird. Das könnte alles sein, von einer kleinen Pilzgruppe mitten im Weg über eine Kröte bis zu einem sonstigen Objekt, das irgendwie mit dem Rest des Bilds und der Situation im Dialog oder im Kontrast steht.

Aber dort, wo der Fokus liegt, ist nichts, und rechts daneben am Strassenrand sind einige Blumen, die meinen Blick auf der Suche nach dem Objekt der Betonung anziehen, aber bereits wieder ausserhalb des Schärfebereichs liegen.

Schon ein leichtes Abblenden und eine Vertiefung der Schärfe im Vordergrund würde weniger Erwartung wecken und wäre ein nicht ganz so aufdringliches Ausrufezeichen, so dass die unerfüllte Suche des Betrachters nicht zu seiner Enttäuschung würde.

Demnach ist der Regelbruch hier durchaus vertretbar, indem es Dir darum ging, den Hintergrund des Wegs durch Unschärfe zu mystifizieren – mit Blende 1.8 überschlägt sich diese Absicht aber, indem aus dem Unschärfe-Effekt für den Hintergrund eine extreme Betonung des Vordergrunds wird.

Eine Schlussfolgerung daraus könnte sein, dass Regelbrüche an sich ein relatives Element sind, das in verschiedenen Stärken angewandt werden kann. Mit dem richtigen Mass unterstützen sie eine bestimmte Wirkung, weil sie leicht gegen die Erwartungen verstossen; werden sie übertrieben, so kippt die Wirkung ins Gegenteil und schafft statt einer leichten Irritation eine völlig neue Erwartung. Das Gewürz wird zum Hauptgang, sozusagen.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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4 Kommentare
  1. Frau Zausel
    Frau Zausel sagte:

    Wow, Peter, da hast du dir aber mächtig Mühe gegeben mit deiner Bildkritik. Ich bin überwältigt und danke dir sehr dafür. Normalerweise würde ich dieses Foto unter der Sektion Emotionen hochladen und nicht unter Landschaft. Ich bin absolut einverstanden mit dem Kritikpunkt, dass es für den Betrachter einfacher wäre, wenn ein Eyecatcher im Schärfebereich liegen würde. Und ich weiss auch, dass nicht jeder Bilder mit so einem knappen Schärfebereich mag. Ich fotografiere sehr oft in dieser Form, es ist eines meiner wichtigsten Stilmittel geworden. Nur bei der „richtigen“ Landschaftsfotografie bevorzuge ich normalerweise auch einen sehr viel größeren Schärfebereich. Nun stellt sich die Frage, warum habe ich keine Motiv in den Schärfebereich gerückt? Es war einfach wenig da und hätte dann nicht mehr in den Bildaufbau gepasst. Dazu kommt, dass das Foto meine damalige Situation sehr gut wiederspiegelt, was natürlich nicht jeder aus diesem Foto heraussehen kann.
    Da ist der Weg und man steht dort am Anfang, man kann nur ein kleines Stück einsehen, danach wird es ungewiss und kurvig. Man weiss also nicht, was einen erwartet, man weiss nur, das ist der Weg den man gehen muss.
    Also nochmal vielen, vielen Dank! Ganz liebe Grüße Andrea Gerber

    Antworten
    • Peter Sennhauser
      Peter Sennhauser sagte:

      Hallo Andrea – gern geschehen. Mühe war es eigentlich nicht, ich fand das Bild sehr herausfordernd, und dann ist es in der Regel leicht, eine Analyse zu wagen.

      Ich meine übrigens überhaupt nicht, dass Du etwas hättest in den Fokus legen sollen – sondern dass diese extreme Blende eigentlich nur dann angewandt werden sollte, wenn schon etwas dort ist. Denn was hier irritiert und nicht zu Deiner Interpretation vom Anfang passt, ist, dass der unmittelbare Vordergrund (der „Anfang, an dem wir stehen“, selber auch unscharf ist.

      Mit leichtem Abblenden oder einem näher an Deinem Standort gesetzten Fokuspunkt hätte sich das vermeiden lassen, und dann wäre deutlicher, dass die Schärfentiefe Stilmittel und nicht Blickführung ist.

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