Seniorenporträt: Das Rätsel von Lady Luck

Situationsporträts entwickeln bisweilen hohe Anziehungskraft dadurch, dass einige der wesentlichsten Elemente einer Porträtfotografie fehlen. Diese Aufnahme ist ein Bilderrätsel von hoher Dynamik. Leider macht das missglückte Framing viel davon gleich wieder zunichte.

Senior in Schwarz Weiss

Charakterkopf im Seniorenheim – S/W-Porträt Canon EOS REBEL T4i, Blende 9 bei Brennweite 135mm und ISO 100 © Reinhard Witt

Das Bild zeigt meinen 90 jährigen Vater bei einem Besuch im Alten/Pflegeheim. Es wurde vor kurzem aufgenommen. Eine Absicht stand nicht dahinter. Er kasperte zu dem Zeitpunkt ein wenig herum, was er sonst eigentlich nie getan hatte. Zufälligerweise (!) hatte ich zu dem Zeitpunkt meine Kamera am Mann und konnte eine ganze Serie davon ablichten. Mir gefällt einfach der Ausdruck und das SW – in Farbe kommt das Bild überhaupt nicht rüber… :-) – Reinhard Witt

Ein älterer Herr mit Sonnenbrille und Baseball-Cap schaut in diesem Schwarz-Weiss-Brustporträt (Medium-Closeup) in die Kamera. In seiner rechten Hand hält der Mann eine Kuchengabel über einem Stück Kuchen auf dem Teller in seiner Linken. Das zerfurchte Gesicht lässt keinen genauen Schluss auf seine Gemütsstimmung zu. Im unscharfen Hintergrund ist rechts vom Porträtierten ein weiterer Mann an einem Tisch grade noch zu erkennen, über die rechte Schulter unseres Gegenübers blicken wir offenbar in einen Gang mit mehreren Türen.

Auf den ersten Blick nimmt einen diese Aufnahme gefangen, weil sich just das, was ein Porträt ausdrücken soll, nicht erkennbar ist: Die Stimmung des Porträtierten. Grundsätzlich bringt ein gutes Porträt eine Emotion, vielleicht sogar ein Stück Persönlichkeit des Motivs zum Betrachter. Und das passiert in erster Linie über die Augen und den Mund des abgebildeten Gesichts: Wenig interessiert die Menschen so sehr wie andere menschliche Gesichter, wohl deswegen, weil wir ursprünglich bei jeder Begegnung erkennen mussten, ob vom Gegenüber eine Bedrohung ausgeht. Hier aber sind die Augen hinter der Sonnenbrille nicht zu sehen, und auch die übrigen Gesichtscharaktere wie der Mund geben wenig Aufschluss.

Deswegen fange ich als Betrachter an, eine Geschichte zu suchen, um Klarheit zu erlangen. Das führt automatisch dazu, dass ich das Bild genauer betrachte. Würde ich die Augen sehen und hätte sofort eine Ahnung, was los ist: Vielleicht würde mich der ältere Herr hier dann nur halb so sehr interessieren. – Die Sonnenbrille, die eigentlich ein No-Go für ein Porträt, ist in diesem Ausnahme-Fall also ein Gewinn. Ohne sie würde Mona Lisa breit grinsen, könnte man behaupten (ich habe das geschrieben, bevor ich gemerkt habe, dass Du schon mal mit einem Porträt mit diesem Effekt hier abgeräumt hast…). Übrigens finde ich in diesem Zusammenhang Deine Titelwahl «Lady Luck» ganz ausgezeichnet: Sie trägt zur Stimmung bei, hat einen offensichtlichen Ursprung und ist nicht zu dick aufgetragen.

Tote Augen aufgrund der Sonnenbrille.

Lebendige Augen trotz Sonnenbrille

Das gesagt: Das liegt auch an der glücklichen Konstellation des Lichts, denn ohne die Spiegelungen in der Brille, die den «Augen» Leben einhauchen, würde Dein Vater aussehen wie eine tote Fliege.

Auch die übrige Ausleuchtung ist ein Glücksfall: Das Gesicht liegt schon fast in einer Rembrandt-Crosslicht-Beleuchtung, wie man sie im Studio aufbauen würde; der Mann hinter deinem Vater verleiht dem Bild zusätzliches leben, ohne abzulenken, und der helle Gang im Hintergrund verschafft der Aufnahme Raum. Die Freistellung ist laut Exif bei Blende 9 und 135mm und einem recht kurzen Objektabstand sehr passend, weniger Schärfentiefe würde den Blick zu sehr auf Deinen Vater konzentrieren.

Nach den Positiven Dingen ist aber auch Negatives zu bemerken. Auch wenn es in Situationsporträts nicht immer einfach ist: Abgeschnittene Gliedmassen müssen vermieden werden. hier schlitzt‘ Du Deinem Vater den ganzen rechten Arm auf und verstümmelst seine linke Hand,  von der wir nur noch den Daumen sehen. Das wiegt umso schwerer, als das Kuchenessen mit diesem Gesichtsausdruck zusammen das Rätsel verstärkt, was hier los ist.

Ohne Arme geht es nicht

Zumal wir beim Zusammenreimen der Geschichte in der Betrachtung unweigerlich alles andere auch anschauen wollen und daraus Antworten auf unsere Fragen konstruieren: Was isst er denn, was hat er in der linken Hand, weshalb stellt er den Teller nicht auf den Tisch (den wir nicht sehen) und so weiter. Der oben für das Bild mit den glanzlosen Augen von gewählte Ausschnitt macht auch deutlich, dass das Porträt nicht auf die Hände verzichten kann. Das Bild zu Croppen ist also keine Lösung, es verliert sicher die Hälfte seines Reizes.

Ich persönlich finde das sehr schade, denn umgekehrt sind die angeschnittenen Gliedmassen untrügliches Zeichen dafür, dass es sich hier um einen Schnappschuss handelt, und zwar einen von der Sorte «knapp verfehlt ist auch daneben»: Das Potential des Bildes ist eindeutig erkennbar, aber die massiven Defizite machen aus einem möglicherweise hervorragenden Bild eines, das ich ins Familienalbum, aber nicht in mein Porträt-Portfolio übernehmen würde.

14 Kommentare
  1. Reinhard
    Reinhard sagte:

    Da bin ich doch gerade mal über die Daten des Bildes gestolpert… ups… wo die wohl her kommen… :-)
    Einige interessiert es ja brennend, wie Exif Daten zu Bildern lauten. Ich kann damit überhaupt nix anfangen. Kein Bild ist wie das andere…
    Also hier noch mal die richtigen Daten: Canon EOS 5D MkIII, Sigma 1.4/85mm, Arbeitsblende 1.6… ich war also gar nicht so nah dran… :-)
    1/800 sec. bei ISO 1250, so hell war es da nicht mehr… +0,3 LW, Mehrfeldmessung, Zeitautomatik.

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  2. Dirk
    Dirk sagte:

    ja aber Hallo na klar … Mit einer Lampe an Deck welche im Wind und in den Wellen wackelt und die Schiffsglocke poltert wie von Seepferdchen geschüttelt in die Dunkelheit einen Klang der Ankündigung für den besonderen emotionalen Moment an der Serhundbank … Kling Klang … Ein KajütenNikolaustreff ist etwas besonderes … glaub mir mal … :-)

    Der frische Wind bleibt über den Wellen denn die Tür ist fest verdchlossen …

    Ich hoffe Du hast ein schönes Bild vor Augen … :-)

    Denn so ist es

    Alles Liebe

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  3. Dirk
    Dirk sagte:

    hallo christian …

    die Sakkaden sehen das etwas anders … :-)

    wenn du auf einiges… was du als angenehm im Bild empfindest …verzichtest … dann ist es so …

    ich denke … es macht doch eine Menge aus …

    so oder so steht jetzt der Nikolaus vor der Tür und ich wünsche einen tollen Abend … vom Krabbenkutter der Dirk

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    • Christian Fehse
      Christian Fehse sagte:

      Siehst Du Dirk und ich denke die Gefühle die ein Gesicht auslösen, machen mehr aus – auch bei Bewegung der Augen.

      Ich hoffe Du wirst nicht vom Kutter geweht – hier in der Ebene stürmt es küstenmäßig. Kommt bei euch der Nikolaus auch per Schiff?

  4. Christian Fehse
    Christian Fehse sagte:

    Also ich kann mit diesen ganzen Rägeln bei der Portraitfotografie gar nicht viel anfangen. Einiges ist bestimmt richtig und man kann in älteren Artikeln hier von dem Herrn Dr. Brotzler auch nachlesen, warum die Dinge beim betrachten funktionieren.
    Aber bei diesem Bild ist nichts von dem wichtig, finde ich. Wenn ich auf das Bild schaue, habe ich eine Geschichte – oder auch 10 Gesichichten – auf einen Blick. Trotz „abgeschnittener“ Gliedmaßen oder weil es nur ein Schnappschuß ist. Es ist auch egal, wer da im Hintergrund sitzt, oder ob da Türen sind – oder ob der Mann Kuchen ißt (das habe ich nicht mal gesehen, als ich mir das Bild das erste mal angeschaut habe. Habe erst noch mal hingeschaut, als in der Kritik was von ner Gabel stand). Mir wäre es auch egal, wenn dem Mann jetzt aus dem Kopf noch ein Pfeiler ragen würde – auch so eine Todsünde oder?
    Man kann im Netz soo viele Portraits sehen, die alle eins sind: perfekt komponiert, wunderbar klar fotografiert, schön und sehr oft ohne das sie Gefühle Gefühle auslösen.
    Dieses Bild ist ein 1/100s oder so aus dem Leben dieses Mannes. Der schaut, wie er schaut. Der aussieht aus, wie er aussieht. Und das Bild von ihm bringt sofort eine Menge Gefühle und Phantasien in meine Kopf. Deswegen ist es ein gutes Bild. Ein sehenswertes Bild. Das – und fast nur das – finde ich wichtig an Fotografien, besonders bei Bildern von Menschen.

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  5. Dirk
    Dirk sagte:

    lieber Reinhard … ich glaube … Du hast das verinnerlicht und einfach drauf …. Die Spitze links unten ist doch kei Zufall :-)

    also nimm das Lob an …

    alles weitere was Peter beschreibt stimme ich auch zu ….

    liebe Grüße Dirk

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  6. Reinhard
    Reinhard sagte:

    Hi Dirk,
    das is ja n Ding… immer noch da?… Freut mich von Dir zu lesen… wie gewohnt zerhackst Du das Bild erst einmal in Formen, Linien… und ja… die Fluchtpunktgestaltung fiel mir schon vorher auf. Aber wenn ich alles weitere lese, komme ich immer weiter zum Schluss, dass, wenn ich das alles bei der Komposition beachtet haben sollte, seeehr weit weg bin vom Schnappschuss, der es ja auch sein könnte – Andererseits, hm… wie viel steckt in mir selbst das alles schon so weit verinnerlicht zu haben, dass es automatisch geschieht… die Gestaltung rund herum… Dennoch gebe ich Peter zu, die Ausführung am unteren Bildrand hätte glimpflicher verlaufen können. Aber ob dann noch die doch akurate Linie der Grundlinie für das Dreieck geblieben wäre, sei dahin gestellt.

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  7. Dirk
    Dirk sagte:

    Guten Morgen Reinhard und Peter und allen LeserInnen …

    vom Krabbenkutter an der Seehundbank …

    … was mir ins Auge … :-)

    1. der Fluchtpunkt links knapp aus dem Bild …

    2. das Formenspiel in dem linken Bilddrittel bis zum Kopf … Dreiecke … Rechtecke im Bild ohne das Bild fallen zu lassen … Dreieckspitze rechter Arm nach links ziehend …

    3. Das Dreieck des Herren mit der Spitze nach oben … aber nicht wirkungsvoll typisch nach oben ziehen ins Bild … nein – ruhend durch die lange Gerade die auch den Bildrand unten setzt …

    4. das horizontale Dreieck aus Fluchtpunkt links – Kopf des Herren rechts in Unschärfe und die die gedachte Spitze leicht nach oben zeigend des Protagonistens … es entsteht eine nicht vorhandene Perspektivenverschieben von der realen geraden Blickachse Protagonist und Fotokamera zu einer leichten Untersicht … toller Effekt !!!!

    … ach ja … aus diesem Dreick lässt sich dann angedeutetndad A als bildgestaltendes Element erkennen welches seine Wirkung unmerklich in das Bild einbringt …

    4. oder 5. ??? :-)

    der Herr rechts in det Unschärfe senkt seinen Kopf und ist ein angedeuteter Kontrapunkt zur primären Bild – Linienführung und der Gesantwirkung im Bild …

    6. Die Gabel in der Hand und der Arm Hand Gabelzeig nach rechts ins Bild auf beschriebenen Herren ist doch klasse … so rundeet das Bild ab in dem jede Ebene und Drittel seinen Hinweis der Betrachtung durch Linien erhält …

    7. wer dies Räumlichkeiten im Allgemeinen kennt wird sich trotz Andeutung von Flur Licht Türen Bildhänghöhe Wasserflasche aus Glas auf dem Tisch weiße Teller spitze kleine Kuchengabeln usw. fast „heimisch“ fühen dürfen … und somit sind diese Alle … doch ein ganz wesentlicher Bestsndteil im Bild und fast unverzichtbar :-) …

    8. Vielleicht Meer als ein Mann mit Hut und Sonnenbrille … Reportage, Dokub… vierter Lebensabschnitt …. ???

    So Reinhard… genug vom Krabbenkutter und den Formen im Bild …. Die Wellen sund da etwas rundlicher und so find …

    Glückwunsch zu diesem besonderen persönlichen Moment im Bild … allen Bildbeteiligten alles erdenklich GUTE …

    Grüße von der Seehundbank an alle LeserInnen und an das Team …

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  8. Peter Sennhauser
    Peter Sennhauser sagte:

    Hallo Reinhard – danke für die Blumen, ich freu mich auch, nicht nur hier wieder mit von der Partie zu sein, sondern auch gleich mit Bekannten zusammenzutreffen.
    Nun, Fehler ist ein grosses Wort: Bei solchen Porträts komponierst Du ja nicht jeden Frame, da kann es dann schon passieren, dass die Aufnahme mit dem tollsten Gesicht die mit dem abgeschnittenen Arm ist, und die mit dem perfekten Framing dafür einfach todlangweilig aussieht. Anders gesagt: Glück gehört auch dazu, und wenn man es erzwingen will, muss man einen viel zu grossen Ausschnitt wählen und auf dem Auslöser draufbleiben.

    Antworten
  9. Reinhard
    Reinhard sagte:

    Hi Peter, Du glaubst gar nicht wie ich mich freue, wieder von Dir eine Bildbeurteilung bekommen zu haben. Doch zunächst einmal Herzlichen Glückwunsch zum NEUEN BILD auf Fokussiert. Meines Erachtens war das schon lange überfällig. Schön groß, schön deutlich… Man(n) wird ja nicht jünger…
    Zu Deiner Kritik: Wieder mal sehr ausführlich und für mich persönlich ein Highlight. Ich gehe mit dir konform, wenn du sagst Abgeschnittene Gliedmaßen dürfen nicht sein… Wenn ich ehrlich bin habe ich diese „Regel“ schon zu Anfangszeiten in der FOTOCOMMUNITY auch von einem Profifotografen gehört. Ich gebe Dir auch recht damit. Es war ein „Flüchtigkeitsfehler“. Du weißt ja sicher wie das ist… Amateure verlieren schnell die Fassung, wenn sie etwas sehen, dass gerade in dem Moment passt… und dann passiert so etwas. Und er brachte an diesem Tag so einiges zustande. Ständig in Bewegung… aufgekratzt… weil ihm etwas nicht passte im Altenheim. Das kann er gut. Es war, wie gesagt Zufall, dass ich die Kamera dabei hatte.
    Als Schnappschuss würde ich es nicht betiteln. Denn wie Du ja auch schreibst: Ein engerer Beschnitt würde „zu viel“ vom Bild wegnehmen. Dann lebe ich lieber mit dem Wissen einen gravierenden Fehler gemacht zu haben, der mir sicherlich nicht wieder passiert, als mit einem Beschnitt der mich nicht befriedigen würde.
    Ja, schade… aber kein Weltuntergang… :-)) Ich gelobe Besserung…

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  1. […] wie bei Porträts. Ausser wenn Du die Tier nur zur Artenbestimmung fotografierst, kannst Du Ihnen keine Glieder oder wie hier ganze Körperteile abschneiden. Und wenn, dann müsste das derart radikal geschehen, dass mir als Betrachter sofort klar wird, dass […]

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