Strassenfotografie: Das Gewicht des Hintergrunds

Wie wirkungsvoll ein toller Hintergrund sein kann, verkennen viele Fotografen gerade dann, wenn es schnell gehen muss.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Michael Ndarurinze).

Kommentar des Fotografen:

Das Bild wurde während eines Paris-Besuches im Sommer diesen Jahres von mir aufgenommen, mit einem Tele von den Treppen von Sacre Coeur hinunter mit Blick auf die Stadt. Der Flötenspieler stand leicht erhöht auf einer Art Podest und hat in mir sofort Assoziationen an den Rattenfänger von Hameln o.Ä. hervorgerufen: der einsame Mensch vor der großen Stadt, die Art der Kostümierung, der träumerische Gesichtsausdruck, die gedämpften grau-braunen Farben…

Peter Sennhauser meint zum Bild von Michael Ndarurinze:

Ein Flötenspieler in Elfenkappe und mit Spitzohren tanzt musizierend von links durch dieses Bild. Sichtbar etwas ab Kniehöhe, gleicht der Mann auf den ersten Blick einer mit Patina überzogenen Bronzestatue. Im unscharfen Hintergrund ist ein aus vielen Farben bestehendes Muster in der Unschärfe nicht genau zu erkennen; der Musikant hebt sich dagegen aber stark räumlich ab.

Du hast das Bild in der neuen Kategorie „Schnappschuss“ eingereicht, aber ich finde, es handelt sich eigentlich um Strassenfotografie:

Du hast bewusst und geplant ein hervorragendes Bild des Musikers geschossen, und dabei auf Komposition und Aussage geachtet.

Die Aufnahme wirkt aus mehreren Gründen stark plastisch. Da ist die Bemalung des Künstlers, die ihn auf den ersten Blick wie eine patinierte Bronze-Statue erscheinen lässt, und das gedämpfte Licht aus dem bewölkten Himmel direkt von oben schafft starke, aber nicht übertriebene Kontraste. Die spitze Mütze wirkt dabei besonders und wäre in einer Metall-Plastik wohl ein buchstäblich herausragendes Stück.

Zweitens ist kein Boden im Bild sichtbar. Du hast den Flötenspieler, durch seine leicht erhöhte Position, ganz leicht von unten „erwischt“ – eine gute Änderung der Perspektive, aber auch ein Risiko, eben weil kein Boden sichtbar und somit Distanzen nicht abschätzbar sind.

Dafür hast Du mit ziemlich weit offener Blende bei langer Brennweite operiert, was für wenig Schärfentiefe sorgt und dadurch den relativ weit entfernten Hintergrund schön verzeichnet.

Punkt zwei und drei verleihen dem Bild im Zusammenspiel eine starke räumliche Wirkung: Jetzt wird der Risiko des unsichtbaren Bodens plötzlich zum Vorteil, weil der Flötenspieler vor dem Hintergrund zu schweben scheint.

Dieser wiederum ist hier ein Glücksfall: Die nicht ganz schematische Regelmässigkeit, der gerade noch erkennbare Verlauf in die Ferne und die dezenten Farben passen hervorragend zu den klaren Linien und Kontrasten und verpassen dem Bild eine zurückhaltende Buntheit, welche den Metall-Look des Flötenspielers betont, ohne aufdringlich zu werden.

Man stelle sich den Flötenspieler vor einer Hauswand oder einem geschäftigen, knallbunten Stadthintergrund vor. Er würde immer noch wirken, aber das Bild als ganzes wäre nur halb so gut.

Drei kleine Kritikpunkte: Erstens ist die Komposition etwas zu mittig. Wenn der Künstler auf einem Podest stand, hattest Du durchaus die Möglichkeit, ihn weiter nach links zu rücken und ihm so mehr Raum nach rechts zu geben (was man nachträglich auch noch mit einem Beschnitt machen könnte).

Zweitens finde ich die Unschärfe des Hintergrunds einen Tick zu stark. Ein, zwei Drittel abblenden hätte vielleicht noch ein kleines bisschen mehr erkennbare Struktur ergeben. Auch das wäre, da der Flötenspieler fest an Ort stand (was im Bild positiver Weise nicht zu sehen ist), erprobbar und korrigierbar gewesen. Leider sieht man auf den Displays auch sehr guter SLRS gerade diese Nuancen schlecht.

Und schliesslich hat der Hintergrund drei Farbkleckse, die ich weggeklont hätte: Unter dem Hintern, im Rücken und vor den Händen des Flötisten.

Die Aufnahme ist aber auch dank der Haltung, dem Gesichtsausdruck und dem wunderbaren Licht ein gutes Stück.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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5 Kommentare
  1. Frank
    Frank sagte:

    Wie sähe dies Bild aus, wenn die Kamera um 90 Grad gedreht worden wäre. Dann hätte das Bild Verbund zur Erde und die Stadt unter dem Huegel wäre als solche besser erkennbar.

    Das geht halt nicht so einfach und schnell mit einer schweren SDLSR zu machen, gell? Wäre aber 100 %ig wirksam. Schade drum.

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  2. Henrik Behrends
    Henrik Behrends sagte:

    Der Rezensent schreibt, das Bild sei von leicht unten fotografiert worden. Dabei schreibt der Fotograf selbst, er habe von oben hinunter fotografiert.
    Dann wird auch klar, dass der Hintergrund die Straßen und Häuser der Stadt sind, was die Aussage des Rezensenten, man sehe keinen Boden, berichtigt.

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    • Peter Sennhauser
      Peter Sennhauser sagte:

      Hallo Henrik – Du hast in den Grundzügen recht, aber mit „Boden“ meinte ich hier nicht einfach den Erdboden – dass das Häuser und Strassenzüge unten in der Stadt sind, das ist ja klar erkennbar. Es geht darum, dass der Boden, auf dem der Künstler steht, nicht sichtbar und der Abstand zwischen uns und ihm nicht abschätzbar ist.

  3. Antje
    Antje sagte:

    Ein tolles Bild.
    Die mittige Position stört mich eher wenig.
    Mir fallen aber sofort die „Farbkleckse“ ins Auge und die stören mich. Würde ich auf jeden Fall wegstempeln!

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  4. Michael Ndarurinze
    Michael Ndarurinze sagte:

    Vielen Dank für die positive (und motivierende) Kritik, und für Dein geschultes Auge. Den Punkt mit der etwas zu mittigen Komposition hatte ich erwartet, und es gibt auch ein Foto, bei dem ich aus diesem Grund etwas weiter hinausgezoomt hatte, und der Flötenspieler dann auch rechts mehr Raum hat. Da stimmten dann aber leider seine Haltung und Mimik nicht mehr, und der Mützenzipfel hängt schlaff ‚runter. Von nachträglichem Beschnitt habe ich abgesehen, weil ich fand, dass der Mützenzipfel damit zu weit aus dem Zentrum rückt. Aber ich gebe Dir völlig Recht: rechts noch etwas mehr Luft, ohne links schneiden zu müssen, und es wäre noch stimmiger gewesen.

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