Strassenfotografie: Freistellen

In einem belebten Umfeld muss ein Motiv freigestellt werden – durch Schärfe, Pespektive, Licht oder mit anderen Mitteln.

Fotografie ohne Schärfentiefeneffekte

Zwei Kinder begegnen sich – Strassenmusiker in Berlin.

Uwe Köppe aus Berlin schreibt zu diesem Bild: Mitten in Berlin begegnen sich in der Touristenmeile zwei Kinder…
„Kontrast“ im sozialen Sinne

Strassenfotografie bietet viel Reiz durch die ungeheure Dynamik, die in der Stadt für ständig wechselnde Motive sorgt. Bisweilen ist es aber eben auch zuviel Dynamik, und eine Trennung der Ebenen tut not.

Leider haben wir zu dieser Aufnahme keine Exif-Daten, ich gehe aber davon aus, dass sie mit einem Normalobjektiv oder etwas, was dem nahe kommt, an einem trüben Tag um die Mittagszeit mit einer nicht sehr weit geöffneten Blende und einer relativ langen Belichtungszeit entstanden ist. Letzteres ist zu erkennen an der Bewegungsunschärfe im rechten Fuss des kleinen Jungen. 

Wir blicken auf der Brücke westlich des Berliner Doms zum SpreePalais. Die Farbfotografie zeigt rechts das Geländer der Brücke und in den linken zwei Bilddritteln die Strasse. An der massiven steinernen Brückenbalustrade sitzt ein farbiger Junge mit Harmonika vor einem Pappbecher. Vielleicht einen Meter vor ihm kommt eine Grossmutter mit kleinem Enkel direkt auf die Kamera zu. Die Frau blickt zum Pappbecher, der kleine Junge hält ihre Rechte und hat die Linke im Mund, er blickt neugierig zum Strassenmusikanten. Hinter den beiden Personen sind etliche weitere erkennbar.

Was Du uns mit dem Bild zeigen willst – die Begegnung zweier Kinder in Berlin, die eine Reihe von sozialen Unterschieden manifest macht – ist in dieser Aufnahme klar erkennbar. Die Interaktion der drei Hauptpersonen vermag den Blick zu binden und unsere Aufmerksamkeit zu wecken.

Trotzdem ist diese Fotografie nicht wirklich gut gelungen. Das liegt an der mangelhaften Trennung von Motiv und Umgebung. Das Bild wirkt ausserordentlich flach, die Grossmutter mit dem Kleinen klebt mitten in den Menschen, die doch relativ weit von ihr entfernt sind.

[bildkritik]

Als Fotograf hast Du grundsätzlich vier Dinge zur Verfügung, mit denen Du arbeiten kannst: Perspektive, Brennweite, Verschlusszeit und Blende. Das erste ist der Blickwinkel, die Sicht auf Dein Motiv. Das Zweite ist ein Hilfsmittel, um die Optik zusammenzuziehen oder auseinander zu drücken (Weitwinkel)  und hat in dieser Aufzählung nur einen sehr bedingten Platz, weil lange Brennweiten in der Regel von Amateuren für eine Wegersparnis und nicht bewusst für die Bildgestaltung eingesetzt werden.  Mit der Verschlusszeit kannst Du Bewegung darstellen oder einfrieren und den Fluss der Zeit anhalten. Und mit der Blende schliesslich hast Du in starkes Werkzeug, um die Blicke der Bildbetrachter auf eine bestimmte Stelle im Bild zu lenken und den Raum nachzubilden, der sich vor Deiner Kamera auftat.

Was hättest Du hier also tun können? Streetfotografie lebt vom Moment, von kurzen Augenblicken und blitzschnellen Entscheidungen der Fotografin oder des Fotografen.

Trotzdem wäre es hier wichtig gewesen, mit einer der vier erwähnten Methoden für ein Höchstmaß an Freistellung der Gruppe von drei Menschen zu sorgen.

Freistellung meint, die wesentliche Ebene im Bild mit dem wichtigsten Geschehen von den übrigen zu trennen. Das kann durch die Wahl des Hintergrunds geschehen (Porträts vor grüner Gartenhecke). Dazu hättest Du etwa die Perspektive wechseln und beispielsweise drei Schritte nach links machen müssen. Oder Du hättest Dich mit dem Tele etwas weiter weg begeben und an die Szene heran gezoomt – was zusammen mit einer offenen Blende für eine Freistellung durch Schärfentiefe gesorgt hätte.

Inzwischen haben wir sogar die Möglichkeit, im Nachhinein eine offenere Blende zu simulieren, beispielsweise mit den Schärfentiefen-Filtern in Photoshop. Ich habe hier eine sehr grobe Variante des Bildes probiert, wie es mit einer offenen Blende und einer längeren Brennweite aussehen könnte.

Schärfentiefe als Methode zur Freistellung. Hier sehr grob mit Photoshop eingebracht.

Schärfentiefe als Methode zur Freistellung. Hier sehr grob mit Photoshop eingebracht.

Klar: meistens hat man im richtigen Moment nicht die grosse Spiegelreflex mit dem 70-200er Tele dabei, sondern eine kleine Pocketkamera ohne viele Einstellmöglichkeiten, oder sogar nur noch die Handy-Kamera. Ich empfehle für diese Fälle, die Freistellung spannender Szenen im Strassenleben durch ein paar rasche Schritte in die Richtige Richtung zu trainieren. Hier hätten es nur wenige Meter nach links sein müssen, mit denen Du die vier Personen hinter dem kleinen Jungen aus dem Blickfeld gerückt und die Aufnahme damit sehr viel stärker gemacht hättest.

5 Kommentare
  1. Uwe
    Uwe sagte:

    Ich hab das Foto mir einer Kompaktkamera gemacht. Das Freistellen war also nicht möglich, aber die verbesserte Version zeigt eindrucksvoll wie die Freistellung wirken kann.
    @dierk: Warum Streetfotografie? Weil sie das wirkliche Leben festhält.

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  2. dierk
    dierk sagte:

    ich möchte noch ergänzen, warum ich keine Street Fotos mache:

    * ich möchte auch nicht, dass ich ungefragt auf der Strasse fotografiert werde und mein Bild dann irgendwo auftaucht
    * mir ist die rechtliche Situation zu problematisch. Nach meiner Kenntnis müssen mindestens 5 Personen auf dem Bild sein und es darf nicht eine Person besonders herausgehoben sein (wie z.B. hier mit der selektiven Schärfe)
    * mich sprechen die meisten Street Fotos absolut nicht an, sehr oft verstehe ich nicht, warum das Bild überhaupt gemacht wurde und gezeigt wird

    Bilder wie die von MingThein sind da für mich eine besondere Ausnahme.

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  3. dierk
    dierk sagte:

    für mich hat das Bild auch zu wenig Aussage. Diese Szene wäre mit einem lichtstarken leichten Tele (ideal z.B. 85/1.4) besser darzustellen. Auf jeden Fall mit offener Blende. So, wie es Peter in der Bearbeitung gemacht hat. Ich hätte aber auch das Motiv der 3 Personen durch entsprechenden Beschnitt oben und links hervorgehoben.

    Bei Interesse an Street Fotografie kann ich nur den Ming Thein empfehlen. Hier ist eine Serie (neben vielen anderen von ihm), die kaum zu übertreffen ist:
    https://blog.mingthein.com/2016/10/11/photoessay-lisbon-monochromes-i/
    Er sucht sich ein Bild, oft mit besonderem Licht und wartet offensichtlich auf den richtigen Augenblick, bis der oder die Menschen an der richtigen Stelle sind.
    Das hätte man hier natürlich auch noch zusätzlich machen können.
    VG
    dierk

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  1. […] Technisch hast Du Dich auch abgesichert, indem Du mit einer hohen Empfindlichkeit von 500 ISO sichergestellt hast, dass nicht im Getümmel der Schlacht im Zielraum plötzlich so düstere Verhältnisse herrschen, dass Du unscharfe Fotos einfängst, weil die Kamera lange Zeiten einstellt – diese Panne habe ich schon mehrfach erlebt und vielleicht endlich etwas daraus gelernt. Die lange Brennweite und die mittlere Blende sorgen hier für eine recht gute Freistellung mit der Schärfentiefe. […]

  2. […] bei der Straßenfotografie. Welche Entwicklungsmöglichkeiten man hat, wenn es bei der Aufnahme schnell gehen muss. Der Tipp, […]

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