Strassenfotografie: Posterstories

Gute Strassenfotografie führt den Betrachter zu einem emotional bewegenden Punkt, ohne ihn in ein zu enges Korsett zu zwängen: Die Geschichte entsteht im Kopf.

[textad]Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Hans Feyh).

Kommentar des Fotografen:

Im Regen – Hauseingang gefunden. Verzweiflung, sie verpasst ihr Date!

Peter Sennhauser meint zum Bild von Hans Feyh:

Eine Junge Frau steht in dieser hochkant-Schwarz-Weiss-Fotografie in einem Hauseingang. Aus dem Flur und anscheinend aus der Hüfte fotografiert, scheint sie die Kamera nicht zu bemerken: Sie lehnt mit verschränkten Armen am Türpfosten und beisst sich auf die Unterlippe. Draussen zeugt regennasser Boden im unscharfen Hintergrund, warum die in Sandalen und leichter (50er-Jahre-?) Sommerkleidung ausgestattete Dame hier steht.

Die Emotion erschliesst sich in diesem Bild nicht auf den ersten Blick:

Die junge Frau in der Fotografie scheint nebenbei porträtiert worden zu sein – wenig deutet auf den Grund und den Umstand hin. Bei genauem Hinsehen allerdings wird aus dem Hauseingang, in dem sie steht, ein Zufluchtsort: draussen regnet es unverkennbar, und sie trägt ungeeignete Kleidung, um durch den Regen zu rennen.

Aber ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung sagen wenn nicht alles, so doch viel: Sie ist kaum freiwillig hier, sie möchte woanders sein, die Umstände sind nicht ideal.

Ob es nun purer Unmut über das Wetter, Ärger mit den Eltern oder, wie von Dir insinuiert, die Ungeduld ist, zu ihrem Date zu kommen: Solche Geschichten lässt das Bild sofort in jeder Betrachterin aufkommen. Wir wollen wissen, was hier los ist, und wir füllen das Wissens-Vakuum der Momentaufnahme mit Schemata aus Situationen, die uns bekannt sind. Diese werden ausserdem gerahmt von den Umständen: Es ist Sommer (Kleidung, belaubte Bäume), sie fühlt sich unbeobachtet, sie ist auf dem Sprung – unser Bewusstsein strebt danach, die Indizien zu einem Bild und einer Story zusammenzufügen.

Gute Strassenfotografie schafft genau das. Wir haben unlängst festgestellt, dass Fotografien keine Bilder erzählen. Aber sie können und sollen einen Rahmen schaffen, welcher die Betrachter anregt, es selber zu tun. Und je mehr Teilchen vorhanden sind, aus denen sich unser Gehirn eine Story zurechtlegen kann, umso länger bleiben wir hängen und versuchen, genau das zu tun.

Hier gefällt die unterschwellige Ungeduld, die von allen Elementen des Bildes getragen wird: Das Mädchen ist hübsch aufgemacht für einen Anlass; der Hauseingang ist eine statische Startposition, der Regen hat die Reise unterbrochen, und im Hintergrund stünden Fahrzeuge, mit denen sich der Zielort schnell und im Fall des Autos sogar trocken erreichen liesse.

Diese wesentlichen Elemente sind dabei technisch und kompositorisch gut und unaufdringlich in Szene gesetzt. Man stelle sich den Hintergrund vor, wenn er zur Unkenntlichkeit unscharf wäre: Die Geschichte würde sofort verlieren. Oder das Bild ohne die hier eindeutige Regen-Situation.

Ein Punkt allerdings liess mich hier von Anfang an stutzen: Dein Modell scheint nicht erkannt zu haben, dass Du es fotografierst. Das ist zwar ein Wesen guter Strassenfotografie vor allem der alten Meister, deren Tricks, sich in die Umgebung einzufügen, sehr verschieden sind (und der Legende nach häufig auf der unauffälligen und leisen Leica für Hüftschüsse beruhen). Aber es ist heutzutage auch ein Problem des Persönlichkeitsrechts. Solltest Du zufällig zusammen mit dieser Unbekannten in einem Hauseingang Zuflucht vor einem Platzregen gefunden und sie dabei fotografiert haben, dann ist Dir ein tolles Bild gelungen, aber die Dame hat gewisse Ansprüche durch das Recht auf das eigene Bild. In den USA dagegen gälte dies zwar nicht, aber die Aufnahme wäre problematisch, weil sie ganz offensichtlich auf privatem und nicht auf öffentlichem Grund entstanden ist.

Wie dem auch sei, und auch, wenn dieses Bild ganz oder halb gestellt ist: Es fasziniert durch die Ausdruckskraft einer einfachen Komposition oder vielmehr Situation und erinnert mich vielleicht auch deshalb an die Foto-Poster, die wir in meiner Jugendzeit neben Kiss-, Beatles- oder Rollingstones-Starschnitten an die Wände unserer Teenager-Zimmer gepinnt haben. Sehr schön getroffen.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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