Strassenschach: Musse braucht Zeit

Strassenfotografie bedingt eine Beobachterpose – aber die muss nicht mit einem Überraschungsmoment zusammenhängen.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Philipp Becker).

Kommentar des Fotografen:

Das Bild habe ich in Amsterdam an einem öffentlichen Platz aufgenommen. Ganz spontan und glücklicherweise ohne dass der Protagonist etwas davon gemerkt hätte und etwa in die Kamera gelächelt hätte. Ursprünglich war das Bild deutlich größer und im Hochformat. Beim bearbeiten ist mir aber aufgefallen, dass der Spieler dadurch nicht als zentrale Figur erscheint. Ich hoffe, das hat sich durch den Beschnitt geändert und man fühlt die Nachdenklichkeit dieses Mannes. Das Format gefällt mir nicht, ist aber dem Ausschnitt geschuldet. Auch das abgeschnittene Bein des sitzenden Zuschauers fällt auf. Soviel zur Selbstkritik…

Peter Sennhauser meint zum Bild von Philipp Becker:

Mehrere Männer sind in dieser Schwarz-Weiss-Fotografie in ein Schachspiel vertieft. Im Vordergrund steht ein Spieler im grossflächigen Schachfeld und versucht, sich den Überblick zu verschaffen;

im Hintergrund links sitzt ein nachdenklicher Zuschauer, hinter dem Spieler am rechten Rand im Vordergrund sind weitere Beobachter zu sehen.

Eine Strassenszene, wie man sie in Städten Europas vielfach antrifft: Menschen mit Musse geben sich einem Zeitvertreib hin oder beteiligen sich an jenem anderer Menschen.

Diese Vertiefung in ein Schachspiel zeigt Deine Aufnahme in einer Konstellation der Protagonisten von 1:2 von links nach rechts. Du freust Dich, dass Dir die Aufnahme gelungen ist, ohne dass Du entdeckt worden wärst – und kritisierst gleich darauf einige schwere Mängel der Komposition – durchaus zu recht, wie ich finde.

In Deinem aktuellen Bildschnitt setzt Du zwar in der Tat den Schwerpunkt auf den Mann im Schachbrett, der sich um seinen nächsten Zug kümmert. Zugleich aber geschehen einige andere, sehr unglückliche Dinge – dem Spieler selbst sind die Beine abgeschnitten, vor allem aber sehen wir nicht, was ihn auf dem Spielfeld beschäftigt; einer der Zuschauer im Hintergrund und ein vorbeilaufender Jüngling sind halb durch den Mann im Vordergrund verdeckt. Der Zuschauer links im Bild ist ebenfalls angeschnitten, zusätzlich scheint im der Junge, der im Hintergrund vorbeifährt, auf seinem Fahrrad aufgrund der grossen Schärfentiefe fast zu rammen.

In der Strassenfotografie kommt man um einzelne Fehler gelegentlich nicht herum: Die Passanten lassen sich nun mal nicht nach Belieben arrangieren, respektive sie sollen nicht arrangiert werden.

Allerdings bedeutet die „Entdeckung“ durch eine Person, die man fotografieren will, nicht unweigerlich, dass das Bild nicht mehr gemacht werden kann. Im Gegenteil: Wenn Du einmal wahrgenommen und zum Teil der Umgebung geworden bist, kannst Du viel ungenierter fotografieren.

Ich habe Presse- und Reportagefotografen kennen gelernt, die das genaue Gegenteil dessen tun, was Laien wie wir annehmen würden, um natürlich wirkende Szenen zu erhalten: Sie gehen schnurstracks auf die Personen ihrer Wahl zu oder nehmen zunächst mindestens Blickkontakt auf. Das entspricht in vielen Kulturen bereits der Bitte um Erlaubnis, fotografieren zu dürfen.

Im ersten Moment reagieren die „Objekte“ darauf vielleicht mit einer Mischung aus Verlegenheit und etwas Stolz. Meist ist aber nach kurzer Zeit der Moment vorbei, in dem sie sich auf den Fotografen konzentrieren, und sie wenden sich wieder der Tätigkeit zu, die sie vorher verrichtet haben – die Kamera und der Mensch dahinter verschwinden im Hintergrund.

Wenn Du zum Beispiel die Bilder von Emilio Morenatti anschaust, den ich hier schon mehrfach abgefeiert habe, wirst Du sehen, dass er in vielen Bildern von den Menschen, die er fotografiert hat, überhaupt nicht mehr wahrgenommen zu werden scheint – dabei muss er ihnen die Kamera schon fast ins Gesicht gestreckt haben.

Bei dieser Szene könnte ich mir gut vorstellen, dass diese Vorgehensweise funktioniert hätte. Die Männer sind ins Spiel vertieft. Ein Fotograf hätte sie vielleicht kurz abgelenkt, aber sobald Du die ersten Bilder gemacht hättest, wäre Deine Anwesenheit wieder irrelevant und das Spiel wichtig geworden – und Du hättest ziemlich frei den besten Winkel und die beste Position wählen können.

Dabei ist ein Detail besonders von Bedeutung – die grosse Schärfentiefe von Kompaktkameras. Denn selbst bei einer Blende von 3.6 zeichnet Deine Leica noch fast durchgehend scharf – und damit entgeht Dir ein Stilmittel, das in der Strassenfotografie wertvolle Dienste leisten kann, indem Du mit der Schärfe verstärkte Akzente auf Einzelteile einer Szenerie setzen könntest.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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7 Kommentare
  1. Gabriela
    Gabriela sagte:

    „Menschen mit Musse geben sich einem Zeitvertreib hin oder beteiligen sich an jenem anderer Menschen.“
    Genau deshalb gefällt mir der Junge auf dem Rad, weil er unterwegs ist, physisch und in Gedanken woanders, und damit einen Kontrast setzt zu den Menschen mit Musse.

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  2. Philipp
    Philipp sagte:

    Ein Beschnitt mit mehr Schachspiel ist schlicht nicht möglich. Am untere Rand ist das Bild zu Ende. Meine Absicht war es, den Spieler in den „Mittelpunkt“ zu rücken. Je mehr um den Spieler herum zu sehen ist, desto weniger gelingt dies denke ich. Ich hätte natürlich zwei Schritte zurück gehen können. Dann hätte ich aber die ganze Szene fotografiert und hätte nicht den einen Spieler als zentrale Figur gehabt. Ganz ohne Schachfiguren geht es aber natürlich auch nicht.
    Die Kritik an den halb verdeckten Personen und dem radfahrenden Jungen ist nachvollziehbar. Da muss ich einfach aufmerksamer für die Umgebung sein.

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  3. Michael
    Michael sagte:

    Ich find den Jungen und die Tiefenschärfe auch nicht störend. Aber der Beschnitt ist tatsächlich ungeschickt. Noch stärker allerdings stören mich die starken Kontraste. Ist subjektiv, schon klar :)

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  4. David
    David sagte:

    Philipp, ich verstehe den Gedanken hinter dem Beschnitt, aber Du amputierst ja nicht nur zwei Unterschenkel, sondern auch eine ganze Reihe von unschuldigen Schachfiguren! Die sind meines Erachtens für das Bild eines Schachspielers durchaus essentiell. Ich würde an Deiner Stelle doch noch einen Beschnitt mit dem Schachspiel wagen. Ideal wäre es dann freilich, wenn Du auch nach oben noch ein wenig Raum hättest.

    Insgesamt wäre es elegant gewesen, eine Idee weiter links zu stehen, dann wären die beiden angerissenen Personen exakt hinter dem Spieler verschwunden. Aber, wie Peter ja schon bemerkt hat, das sagt sich so leicht, wenn man das Bild dann in Ruhe betrachtet…

    Den Jungen auf dem Rad hätte man noch vorüberziehen lassen können. Andererseits finde ich den irgenwie cool, auch wenn mir erst mal keine formale Begründung dafür einfällt.

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