Void: Emotion in Licht und Schatten

Fotografie kann abstrahieren, und sie kann impressionistisch funktionieren. Diese Aufnahme will Stimmung vermitteln, nicht etwas zeigen. Trotzdem hält sie sich an einige Regeln.

© Rolf Kretzschmar, „Void“, Olympus C3040Z Aufnahmedaten: 1s bei Blende 18 mit 7.3mm (KB-Äquivalent rund 35mm) Brennweite und ISO 277

Rolf Kretzschmar aus Aachen schreibt zu diesem Bild: Das Foto habe ich aus mehreren Fotos ausgesucht, die am selben Ort zur selben Zeit aufgenommen wurden.
Ort ist der „Turm der Stille“ im Jüdischen Museum Berlin, zu der Zeit, als das Museum noch neu und leer war.
Der Ort hat eine unglaubliche Aura: Ich stehe in einer der drei Ecken des viele Meter hohen Raumes, der nur eine kleine Lichtöffnung an der Spitze hat. Menschen betreten den Raum durch eine schwere Metall(?)tür, und verschwinden wieder. Niemand spricht, als wäre es verboten…. Das Verschwinden der Menschen (ich werde allein gelassen) macht mir Angst. Ich bin plötzlich den Menschen, denen dieser Raum gewidmet ist, nahe.
Kann man dies durch ein Foto vermitteln? Aus fünf Fotos habe ich mich für diese Version entschieden.
Gerne hätte ich gewusst, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. (Falls gewünscht, schicke ich einen Dropbox-Link zu den anderen Fotos.) Seit Jahren suche ich immer wieder nach Motiven, bei denen Menschen ins Bild kommen oder verschwinden (Siehe „Tanz in Venedig“). Leider waren die Ergebnisse mit meiner alten Olympus 3040Z alle besser als die mit meiner Lumix GH4. Das Foto ist völlig unbearbeitet.

Zu dieser Farbfotografie wird zunächst einiges klarer, wenn man die Technik anschaut, mit der sie entstanden ist. Es handelt sich um eine Olympus-Digitalkamera aus dem Jahre 2001, die damals typische, heute sehr bescheidene 3,3 Megapixel aufzeichnet und einen Cropfaktor von 4.8 aufweist. Die Aufnahme wurde mit rund einer Sekunde, ich schätze aus der Hand, belichtet, und das bei einer Empfindlichkeit von nicht ganz 300 ISO. Der Bildwinkel liegt bei einem leichten Weitwinkel von auf Kleinbild-Standardformat umgerechnet 35 Millimetern.

Die Aufnahme kann als Low-Key-Fotografie durchgehen, weil sie sehr geringe helle Bildanteile hat und ganz bewusst dunkel wirken soll. Als Langzeitbelichtung aus der Hand fotografiert weist sie eine gewisse Unschärfe auf, die aber nicht störend wirkt. der Motivgehalt liegt an der Grenze zum Abstrakten, ist aber noch als Ausgang eines dunklen Raums, in dem sich der Kamerastandort befindet, erkennbar. Am Boden des Raums bildet ein gleissender, in der Türöffnung bis zum Weiss ausgebrannter Lichtkeil den Durchgang ab. Die rechts neben dem Fotografen in der Raumtiefe verlaufende Wand ist nur anhand dieses Einschnitts überhaupt erkennbar, sie wird durch die Türöffnung durchbrochen. An der nach aussen geöffneten Türe zeichnet sich eine Lichtspiegelung von aussen ab. Ausserdem ist erkennbar, dass die Türöffnung nicht rechtwinklig, sondern gegen obern schmäler ist. Im Widerschein des Lichts vom Boden, der die Wand neben der Tür aus der vollkommenen Dunkelheit heraushebt, sind die Wände als roher Beton erkennbar. Der Boden hat ebenso wie die Türe einen leichten Braun/Rotton. Der Türrahmen gehört zu den wenigen bildhaften Linien, welche die Aufnahme als nicht vollends abstraktes Bild und als nicht vollkommen unscharf outen.

Streng gesehen ist die Aufnahme mit einer Sekunde Belichtungszeit aus der Hand nicht ohne Unschärfe zu machen. Sie weist auch eine etwa an der Lichtkante auf dem Boden erkennbare Verwackelung auf und ist  damit „missglückt“.  Weil es dem Fotografen aber gar nicht um eine makellos bildhafte Darstellung des Raumes geht, und weil das aufgrund der Lichtverhältnisse für den Betrachter klar erkennbar ist (sonst hätte man hier mit Blitz/Beleuchtungsinstallationen/vom Stativ mit extrem langer Belichtungszeit fotografiert), wird die technische Imperfektion zum Stilmittel.

Kompakte fotografieren „abstrakter“

Bisweilen sind für Abstrakte Aufnahmen und Impressionistisches wie dieses Bild die kompakten Point-and-Shoot-Kameras besser geeignet als die grossen, einstellungsreichen Spiegelreflex. Denn sie sind genau darauf ausgerichtet, auch noch unter schwierigsten Umständen ein für den Normalverbraucher „akzeptables“ Bild zu liefern, während die SLR kompromisslos auf Foto-Qualität ausgerichtet sind. Will heissen: Die Automatik einer Kompakten stellt auch schon mal den ISO-Wert extrem hoch, die Kamera löst auch aus, wenn der Fokus nicht richtig gesetzt ist etc pepe.

Diese technischen „Grenzwerte“ musst Du bei einer SLR manchmal erzwingen, vielfach aber zumindest selber einstellen, via Belichtungskorrektur etwa drei Blenden abdunkeln, den ISO-Wert erhöhen, die Blende weiter öffnen und eben, beispielsweise bei meinen Nikons, tief im Menu einstellen, dass die Kamera auch dann auslöst, wenn der Fokus nicht perfekt sitzt. Wenn Du häufig solche Situationen antriffst und abstrakt fotografieren willst, übe sie mit der Lumix. Letztlich erhältst Du näher an Deiner Vorstellung liegende Fotografien, wenn Du den Look über die manuelle Einstellung der modernen Kamera ansteuerst.

Einschub: Ich finde das grundsätzlich bemerkenswert, wie klar sich eine [amazonna  3864903386]Absicht zur Abstrahierung[/amazonna] von einem Zufall unterscheiden lässt. Ich habe bisher noch keine Methode gefunden, an was man es benennen könnte. Wir erhalten aber monatlich viele Fotografien von Leserinnen und Lesern, bei denen sich klar eine gewollte oder immerhin eine gelungene Abstrahierung von den vielen zufälligen, die „auch noch ganz gut“ wirken, abheben.

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Die Komposition der Aufnahme ist innerhalb der klassischen Regeln verlaufend, nämlich in den Dritteln: Der Türausschnitt begrenzt die Drittelslinien.

Wenn wir hier also davon ausgehen, dass jedem Betrachter und jeder Betrachterin sofort bewusst ist, dass diese Aufnahme nicht „etwas“ zeigen soll und das nicht mit ausreichend Licht oder scharf tut, dann haben wir ein impressionistisches Bild, das auf einer Situation oder einem Gegenstand beruht, aber ein Gefühl, eine Stimmung ausdrücken will. Das ist selbstredend eine Eigenschaft einer jeden künstlerischen Fotografie: Es geht immer um die Emotion, die transportiert wird, sonst spräche man von Grafik oder von Dokumentation.

Du beschreibst die Wirkung, die der Raum auf Dich hatte, die Situation, in der Du Dich befandest, und die Emotion, die beides ausgelöst hat. Und Du beschreibst das in Worten zur Erläuterung der Fotografie. Die Frage lautet, ob Du das richtige Bild ausgewählt hast, um die beschriebene Stimmung wiederzugeben.

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Zum einen dürfte diese Wirkung individuell sehr unterschiedlich sein; ich kann aber bestätigen, dass die von Dir beabsichtigte Wirkung sich bei mir eingestellt hat und ich auf die Fotografie auch ohne Beschreibung sofort aufmerksam wurde. Zum einen wirkt sie durch die Dunkelheit, den Low-Key, bedrohlich, nicht umsonst handelt es sich um das Stilmittel des Film Noir. Zugleich aber gerät das keilförmig eindringende, von aussen und vor allem von rechts eindringende Licht zum Hoffnungsschimmer. Schmale Lichteinfälle  werden in der Kunst nicht erst seit der Romantik und auch nicht ausschliesslich in christlich-religiösem Zusammenhang im Barock als Darstellung von Verheissung und Göttlichkeit eingesetzt. Im Englischen heissen durch die Wolkendecke brechende Sonnenstrahlen, die aufgrund von athmosphärischer Feuchtigkeit besonders klar zu sehen sind, „Godbeams“, Gottesstrahlen, genannt.

Bemerkenswert ist auch der Lichteinfall und seine Wirkung. Das Licht kommt von rechts, aus dem Osten, aus der Richtung der aufgehenden Sonne; das Licht lässt auf einen „zunehmenden Mond“ schliessen. Für uns in der westlichen Gesellschaft sind das positive Signale im Gegensatz zu abnehmendem Lichteinfall von Links, was Abend, Sonnenuntergang, abnehmender Mond bedeutet.

Deine Frage zu dem Bild bezieht sich nicht auf die Bearbeitung oder die Komposition, sondern auf die Auswahl des Bildes aus mehreren, mit denen Du die Stimmung auszudrücken versuchst, die Dich überfiel in dem Raum.

Ich habe Dein Angebot angenommen und mir die andern Aufnahmen zuschicken lassen, und ich komme zum gleichen Schluss wie Du: Dies ist das beste Bildfür den impressionistischen Zweck, den es hat. Zwar sind auf einigen der andern Fotografien Menschen zu sehen, aber sie verstärken nicht die Emotion, sondern relativieren den Raum.

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Demnach ist der Türausschnitt, der hier isoliert betrachtet gross und breit erscheint und damit den Raum noch viel grösser, und die Leere, die Du mit dem Titel „Void“ ausdrückst, nahezu fühlbar macht, eigentlich verhältnismässig klein. Der Grössenvergleich mit den Menschen setzt auch die Höhe des Raums, der durch Deine Bildkomposition wie ein nach oben offenes Nichts erscheint, wie der Negativraum an sich, plötzlich wieder zu einer Kammer.

Die Frage, welches Deiner Bilder am besten zu Deinem Eindruck passt und ihn ausdrückt, hast Du richtig beantwortet. Die Aufnahme an sich ist ein sehenswertes Bild, mit dem man sich eine Weile auseinandersetzen muss.

1 Kommentar
  1. Michael Gündling
    Michael Gündling sagte:

    Ein Foto, das mich sehr berührt, und eine tolle Besprechung, aus der ich wieder einmal sehr viel gelernt habe. Vielen Dank dafür! Interessant auch, dass durch diese verwickelt-perspektivische Verzerrung der Eingangstür, das Ganze nicht nur abstrakt, sondern auch surreal wirkt. Jedenfalls stellt sich auch bei mir ein beklemmend-ängstliches Gefühl ein. Und wenn eine Fotografie über das bloße kurze Betrachten hinaus weist, beim Betrachter eine Stimmung erzeugt, ist sie gelungen (Notabene, wie auch die Architektur des jüdischen Museums).

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