Wahrheitsanspruch: Fotografie und die Realität

Die Kamera lügt nicht, sagt man. Sind Fotografien deshalb immer ein Abbild der Wahrheit? Eigentlich fängt deren Manipulation bei der Wahl der Belichtungszeit und des Bildausschnitts an.

Zu welcher Tageszeit wurde dieses Bild gemacht?

Zu welcher Tageszeit wurde dieses Bild gemacht?

Selbstverständlich „lügt“ die Kamera nicht, denn dazu gehört ein freier Wille. Lügen bedeutet ja, dass man, obwohl man die Wahrheit kennt, die Unwahrheit sagt. Es ist also eine bewusste Entscheidung, zu der ein elektronisches Gerät nicht fähig ist. „Lügen“ kann allerdings der Fotograf. Und sein Werkzeug dafür kann durchaus eine Kamera sein.

Kann Fotografie überhaupt „die Wahrheit sagen“, also die Realität objektiv wiedergeben?

Um überhaupt über diese Frage diskutieren zu können, muss man sich erst ein mal über die darin vorkommenden Begriffe einig sein, denn mindestens zwei davon sind sehr abstrakt.

Wir nutzen die Begriffe „Realität“ und „Wahrheit“ ohne uns darüber Gedanken zu machen, für was sie eigentlich stehen. Allein für den Begriff „Realität“ gibt es mehrere philosophische und wissenschaftliche Erklärungsversuche. Auch „Wahrheit“ ist nicht immer so eindeutig, wie man es meint. Um es aber nicht zu kompliziert zu machen, nutze ich die beiden Begriffe hier so, wie man es allgemein im Alltag tut. Realität ist alles, was ich mit meinen Sinnen erfasse und Wahrheit ist das Gegenteil von Falschheit (alles, was nicht wahr ist, ist falsch).

Streng technisch gesehen ist Fotografie das Tauschen des Trägers einer Information. Die Informationen die Licht, also Photonen, übermitteln, werden in elektronische Impulse oder in chemische Relationen umgewandelt. Das fertige Foto ist also nicht der originale Informationsträger, sondern nur eine Art Kopie. Eine solche Umwandlung ist jedoch nie verlustfrei. Das bedeutet, dass ein Teil der insgesamt zur Verfügung stehenden Informationen sich nicht im Bild wiederfindet. Das ist in den meisten Fällen zwar vernachlässigbar, aber dennoch ein Indiz dafür, dass eine Fotografie die Realität nicht 1 zu 1 wiedergeben kann.

Einer der gravierenden Unterschiede zwischen Malerei und Fotografie ist, dass ein Maler sich überlegen muss, was er auf die leere Leinwand malt, wohingegen das, was der Fotograf abbilden will, bereits da ist und er sich nur entscheiden muss, was er nicht im Bild haben möchte. Das fertige Foto ist also nur ein ganz kleiner Ausschnitt dessen, was der Fotograf gesehen hat, während er auf den Auslöser gedrückt hat. Das bedeutet, dass sich der größte Teil, der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Realität eben nicht auf dem Foto befindet. Allein diese Tatsache erlaubt es der Fotografie, höchst manipulativ auf den Betrachter zu wirken. Und das ganz ohne analoge oder digitaler Bildbearbeitung.

Als Beispiel kann man ein Projekt von Oliver Curtis, indem er berühmte Sehenswürdigkeiten besucht hat und absichtlich nicht die jeweilige Sehenswürdigkeit fotografiert hat, sondern sich davon weggedreht und dann das Bild gemacht hat. So erscheint so manche Sehenswürdigkeit, die wir nur von sorgfältig gestalteten Fotos kennen, plötzlich nicht mehr so sehenswert. Auch das folgende Bild verdeutlicht sehr gut, wie die Wahl des Ausschnitts die Aussage eines Fotos komplett ändern kann.

Unterschiedliche Aussagen durch Wählen des Ausschnitts

Unterschiedliche Aussagen durch Wählen des Ausschnitts

Bevor ich zu der oft dämonisierten Bildbearbeitung komme, möchte ich gerne erst auf weitere manipulative Faktoren der Fotografie eingehen. Der Fotograf hat nämlich noch eine breite Palette an gestalterischen Möglichkeiten, die dem Betrachter falsche Tatsachen vorgaukeln. Nicht nur der Ausschnitt kann die Aussage ändern, sondern auch die Perspektive.

Aus der Froschperspektive erscheinen Motive groß. Umgekehrt erscheinen Motive aus der Vogelperspektive klein. Allein das kann schon positive oder negative Gefühle beim Betrachter auslösen, die er „vor Ort“ nicht gehabt hätte.

Mit der Wahl der Blende und der Brennweite kann der Fotograf den thematischen Fokus auf einen bestimmten Teil des Bildes legen, so dass manche Dinge wichtig und andere weniger wichtig erscheinen. Durch die Wahl des Films (z.B. Schwarzweiß oder Farbe) oder durch gezielte Über- oder Unterbelichtung kann der Fotograf auch bestimmte Stimmungen beim Betrachter auslösen. Selbst einzelne Farben (z.B. „Grün vor Neid“, Rot als Warnfarbe, Farbtemperaturen) oder Farbkombinationen (z.B. Flaggen) können bestimmte, oft unbewusste Reaktionen hervorrufen.
Jeder Portrait-Fotograf kennt bestimmte „Tricks“, mit denen er Menschen vorteilhaft, also ihre „Schokoladenseite“ ablichten kann. Geschickte Lichtführung und bestimmte Posen können Menschen anders (gut oder auch schlecht) aussehen lassen.

Es wird aber noch komplizierter. Ein und das selbe Foto kann vollkommen unterschiedliche Gefühle und Reaktionen bei verschiedenen Betrachtern auslösen. Bei manchen Menschen kann z.B. eine Akt-Fotografie positive Gefühle auslösen, während andere Menschen peinlich berührt oder gar entsetzt wären. Während sich früher die Mehrheit über solche Fotos empört hat, hat man sich mittlerweile daran gewöhnt, und es löst keinen Skandal mehr aus. So kann sich die Wahrnehmung und Akzeptanz auch mit der Zeit ändern.

Zeigt man indigenen Völkern, die wenig oder keine Berührung mit dem „modernen“ Menschen hatten, ein Foto eines Autos, werden diese Menschen dieses Foto nicht verstehen. Und was der Mensch nicht versteht, löst oft erst mal negative Empfindungen aus. Und wenn ich mir Bilder des Large Hadron Colliders (ein Teilchenbeschleuniger, die größte Maschine der Welt) im CERN an, dann sieht das für mich auch höchst abstrakt aus.

Wie ein Bild wirkt, hängt also auch stark davon ab, zu welcher Kultur der Betrachter gehört und welchen Bildungsstand er hat.

Die berühmten Fotografen Hilla und Bernd Becher, die Begründer der sogenannten Düsseldorfer Photoschule, haben eine Fotoserie über Wassertürme erstellt. Um möglichst objektiv vorzugehen, haben sie sich selbst sehr strenge Regeln für diese Serie überlegt und sich akribisch daran gehalten. Wegen dem gedämpften Licht haben sie nur im Winter und bewölktem Himmel fotografiert, denn sie wollten möglichst wenig Schatten haben. Die Türme wurden immer mittig platziert, und außer den Türmen ist nicht viel anderes zu sehen. Keine Menschen, keine Autos oder Maschinen, usw.

Sie haben die Bilder also inszeniert, ähnlich wie ein Food-Fotograf, der sehr seltsame Zutaten für das Essen nutzt, das er fotografiert, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Die Dinge auf den Fotos existieren so und zum Zeitpunkt des Fotos waren sie auch genau so platziert. Aber sie wurden für das Foto absichtlich so angeordnet.

Ist das nun wahr oder gelogen? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort.

Erst jetzt kommen wir zu der „bösen“ Bildbearbeitung, oder Bildmanipulation, wie manche sie negativ nennen. Jedem dürften schon Bilder im Internet vorgekommen sein, unter denen stand, dass sie unbearbeitet sind. Als wäre es eine Art Auszeichnung. Gegen Poly-, Grau-, Farb- oder jegliche Filter und andere technische Manipulationsmittel hat kaum jemand einzuwenden. Dabei wird die Bildbearbeitung nur auf einen anderen Zeitpunkt vorverlegt. Manipulation ist es trotzdem.

Gibt ein Bild die Realität nicht mehr wieder, wenn man die üblichen einfachen Parameter, wie Weißabgleich, Kontrast, Sättigung, Tonwertspreizung oder Belichtung anpasst? Es reicht doch schon ein Motiv mit gleichen Parametern, aber mit Kameras oder Filmen unterschiedlicher Hersteller abzulichten, um unterschiedliche Ergebnisse zu bekommen.

Retuschiert man ein Foto, also entfernt oder fügt Dinge hinzu, so ist die Manipulation gravierender. Das ist aber nicht grundsätzlich schlimm, es erhebt ja auch nicht den Anspruch, die Realität wieder zu geben. Wenn man sich einen SiFi-Film im Kino anschaut, erwartet man das ja schließlich auch nicht. Die Kamera in Kombination mit der Bildbearbeitung fungiert hier nur als Werkzeug um das Bild aus der Fantasie des Fotografen für andere sichtbar zu machen. Und zwar so, dass es mit der Kamera alleine einfach nicht oder nicht ohne erheblichen Aufwand realisieren könnte.

Bildbearbeitung ist einfach nur ein weiteres Werkzeug im Werkzeugkasten der eigenen Kreativität. Man kann es nutzen, muss es aber nicht. Ein unbearbeitetes Bild ist nicht per se besser als ein bearbeitetes und umgekehrt.

Man sollte sich der Tatsache bewusst sein, dass Bildbearbeitung auch nach hinten los gehen kann. Bildbearbeitung kann dem Fotografen helfen seine Botschaft zu verstärken, wenn der Fotograf weiß, was er tut. So kann der gezielte Einsatz von starkem Kontrast eine Szene dramatischer wirken lassen. Dieser Effekt wird oft gerne bei ohnehin schon beeindruckenden Wolkenformationen als Blickfang angewendet. Stellt man sich ein Bild vor, das z.B. eine entspannte Szene am Strand zeigt, und gleichzeitig einen überdramatisierten Himmel enthält. Das passt nicht zusammen, und man erkennt schnell, dass der Effekt nur dem Zweck dient, den Blick des Betrachters einzufangen, aber nichts auszusagen.

Übertrieben dramatisierte Wolken

Übertrieben dramatisierte Wolken

So ist Bildbearbeitung Fluch und Segen zugleich. Und wer glaubt, dass es Bildbearbeitung erst seit Photoshop&Co. gibt, der sollte wissen, dass auch zu Analogzeiten in der Dunkelkammer retuschiert wurde. Digital ist es nur einfacher.

Wenn ich irgendwo (außer beim Journalismus) sehe, dass ein Fotograf extra darauf hinweist, dass sein Bild unbearbeitet ist, das Bild durchaus etwas optische Optimierung vertragen hätte, dann beschleicht mich das Gefühl, der Fotograf kann es einfach nur nicht oder wollte sich keine Mühe geben.
Das ist wie beim Essen. Salz und Pfeffer können ein Essen aufwerten, doch zu viel oder an der falschen Stelle eingesetzt, können sie es ungenießbar machen.

Henri Cartier-Bresson prägte den Begriff „The Decisive Moment“ (eng.: „Der entscheidende Moment“), was bei seinen Bildern den Eindruck entstehen ließ, er hätte so lange gewartet, bis der entscheidende Moment mit einem Foto eingefangen. Er suchte sich natürlich schon bewusst Position, Ausschnitt und Perspektive aus, er machte allerdings meistens mehrere Bilder von einer Szene und suchte sich dann das Bild raus, was ihm am besten gefiel oder dem am nächsten kam, was er zeigen wollte.

Beherrscht ein Fotograf diese Klaviatur, zu der eigentlich eine gute Kenntnis über die menschliche Wahrnehmung und Psyche gehört, kann er selbst mit einer einfachen analogen Kamera den Betrachter komplett „hinters Licht“ führen. Lässt man zwei Fotografen das gleiche Motiv ablichten, können höchst unterschiedliche Bilder dabei raus kommen. Man muss also feststellen, dass man beim Betrachten einer Fotografie auch immer durch mindestens einen Filter schaut. Der erste Filter ist der Fotograf, also seine Wahrnehmung und seine Interpretation, selbst.

Ein Foto kann sich der Realität annähern, es wird aber niemals die Realität abbilden können. Fotografie ist visuelle Kommunikation, und ist nicht dazu gedacht zu zeigen, wie Dinge aussehen. Sie soll zeigen, was der Fotograf gesehen und empfunden hat bzw. was der Betrachter sehen und fühlen soll. Die fotografische Realität ist eine Illusion.

10 Kommentare
  1. Jürgen Felger
    Jürgen Felger sagte:

    Die indigenen Völker werden zwar keine Autos kennen und ungewöhnliche Emotionen dazu entwickeln, wenn überhaupt. Gleichwohl werden sie Gesichtsausdrücke kennen und entsprechend unmittelbar mitfühlen, finde ich: „Nicht real aber Kino-Bilder wirken“ https://youtu.be/KX3ZpSX6Zyw Die Erfahrung wird stets mit dem Neuen verknüpft.

    Antworten
  2. Kai R.
    Kai R. sagte:

    Schöner Artikel. Je länger man sich mit der Fotografie beschäftigt, desto mehr sollte einem eigentlich klar werden, dass es viele „Realitäten“ gibt. Jeder Mensch hat seinen eigenen (gedanklichen) Kosmos und eigene Weltanschauung.

    Was jemand fotografiert, welchen „Auschnitt“ der vermeintlichen Realität oder „Wahrheit“ er für ein Foto auswählt, ist immer eine individuelle Sache. Das ein Bild immer nur einen Teil der Realität zeigt ist im Text ja schön beschrieben worden.

    Fotografie verfolgt ja auch sehr unterschiedliche Zwecke. Sie ist zwar auch ein Mittel zur Dokumention aber das ist ja nur ein Zweck von vielen. Eine Bildaussage ist ja nicht nur vom Motiv abhängig, sondern auch vom Zusammenhang in dem ein Bild gezeigt wird.

    Ich habe vor längerem mal einen ähnlichen aber längst nicht so ausführlichen Artikel über dieses Thema geschrieben und verlinke den mal weil ich denke, dass er ganz gut zu diesem hier passt:

    https://www.pekaru.de/ein-motiv-zwei-bilder/

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  3. Marco
    Marco sagte:

    Hey Darius,

    ich sehe es genau so wie du und auch meine Vorredner. Vor allem der Satz „Wenn Fotografie nur die Realität abbilden würde… so wäre fotografieren keine kreative Tätigkeit mehr und langweilig. “ von Tilmann ist absolut richtig. Ich persönlich will mit meinen Bildern nicht nur die Realität wiederspiegeln, sondern aus der Realität auch Kunst schaffen.

    Viele Grüße
    Marco

    Antworten
  4. Marcus Leusch
    Marcus Leusch sagte:

    @ Darius Ortmann



    Lesenswerter Artikel mit guten „sprechenden“ Beispielen. Das ließe sich durchaus auch auf das Medium Fernsehen übertragen, wo die endlos laufenden Bilder immer wieder mit der Wirklichkeit verwechselt werden wie beim Kasperle im Puppentheater („We are made of such stuff as dreams are made on and our little life is roundet with a sleep.“ Shakespeare, The Tempest). Bei dem, was Du unter „Realität“ verstehst, fragt man sich unvermittelt, wie (eng) Wahrheit und Lüge miteinander korrespondieren? Aber das ist wahrscheinlich eine Aufgabe, an der sich die Geister abarbeiten und scheiden bis zum Sanktnimmerleinstag.

    Bei dpa und anderen Nachrichtenagenturen ist man übrigens dazu übergegangen, JPG-Dateien den Vorzug zu geben – kein/weniger Photoshop ist hier also gewissermaßen der Qualitätsnachweis für das authentische (wahrhaftige) Bild. – Was für eine Verkennung im digitalen Zeitalter, wenn Dein Schlusssatz stimmen sollte: „Die fotografische Realität ist eine Illusion.“

    

Beste Grüße
    Marcus

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    • Darius Ortmann
      Darius Ortmann sagte:

      Danke schön.
      Ich habe ja erwähnt, dass es verschiedene Definitionen bzw. Thesen gibt, was Realität ist. Und das sowohl in der Philosophie, wie auch in der Physik. In diesem Zusammenhang ist es allerdings nicht ganz so komplex, da es nur um den Wahrheitsanspruch geht.

      Es gab bisher schon ein paar kleine Skandale, bei denen man z.B. Teilnehmern am World Press Photo Award nachgewiesen hat, dass ihre Bilder retuschiert sind. Wie ich beschrieben habe, kann man mit Bildern auch prima manipulieren, ohne dass man das Bild selbst bearbeitet. Dennoch haben der Journalismus und die Dokumentation eine gewisse Sonderstellung, da der Betrachter erwartet, dass zumindest das auf dem Bild Abgebildete „echt“ ist.

  5. Tilman
    Tilman sagte:

    Kann Dir bei allen Aussagen zustimmen, Darius! Danke für den interessanten Artikel. Wenn Fotografie nur die Realität abbilden würde… so wäre fotografieren keine kreative Tätigkeit mehr und langweilig. Im Gegenteil, es ist ja gerade spannend, wie man durch geschickte Manipulation Gefühle und Meinungen erzeugen kann. Das nutzen auch Fotojournalisten, auch wenn ihr Anspruch ist, die Realität abzubilden.

    Antworten
    • Darius Ortmann
      Darius Ortmann sagte:

      Danke schön.
      Interessanter Gedanke, den ich teilen kann. Eine Kamera, die die Realität wiedergeben könnte, wäre quasi so etwas, wie ein „dummer“ Rekorder.

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  1. […] Ich wiederhole mich: Fotografie ist per se Abstraktion, weil sie aus einem komplexen Ganzen immer einen winzigen Ausschnitt (ein paar Grad aus 360) abbildet, und dieser Ausschnitt kann verallgemeinern, vereinfachen, verfremden oder sogar sehr konkret tun, und da… […]

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