Zaungast: Geschichte in einem Bild

Erzählerische Strassenfotografie oder Bildgeschichten unterscheiden sich von „kompositionsfreien“ Schnappschüssen durch eine bewusste Gestaltung, die Raum lässt für den Kontext und das Motiv in eine Umgebung stellt, welche die Stimmung für den Betrachter erst transportiert.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Corinne ZS).

Kommentar der Fotografin:

Auf einem Berner Spielplatz in einem Zelt aufgenommen, in dem Kinder mit Dart-Pfeilen auf Ballone schiessen. Mein Sohn wartet mit dem Pfeil in der Hand auf Ballon-Nachschub. Meine Aufgabe war eigentlich, einen Ballon zu fotografieren, während er platzt. (Was Mütter nicht alles machen, wenn Söhne sie darum bitten!) Aber als Herbstblätter- und Rücken-Fan habe ich dann diesen Schnappschuss dazwischen geschoben. Nun würde mich interessieren, ob das Bild auch lesbar ist und gefällt, wenn man selber nicht dort war. (Respektive, warum nicht.) Das Bild wurde mit einer alten kompakten 5MB-Kamera aufgenommen (Autofokus etc) und der Kontrast etwas erhöht. Zudem habe ich links ein wenig geschnitten, weil in der oberen Ecke etwas störte.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Corinne ZS:

Ich habe mich bei diesem Bild sofort gefragt: Hätte ich die Szene so aufgenommen? Wahrscheinlich nicht. Ich hätte mich dem kleinen Jungen genähert und vielleicht grade noch genug Geistesgegenwart aufgebracht, um ihn nicht direkt von hinten abzulichten.

Was wäre das Resultat? Wahrscheinlich eine recht ansprechende Aufnahme von einem kleinen Jungen, der seinen Kopf durch ein Loch in einer Plane steckt. Und was ist hier das Resultat? eine Stimmung, ein Gefühl, eine Schwingung, die jeder aus seiner Kindheit vielleicht noch kennt.

Ein wenig Einsamkeit gemischt mit der langen Weile, die bei einem Spiel plötzlich auftritt, das grade noch sehr interessant war, weil nebenan etwas anderes, aufregenderes passiert, an dem man aber selber nicht teilhat und es doch gerne möchte. Die Hin- und Hergerissenheit zwischen zwei Dingen: Der grade noch aktuellen Beschäftigung (noch hält der Kleine fest am Dartpfeil) und dem neuen, aufregenden, von dem man ausgeschlossen ist.

Warum schafft dieses Bild es, solche Gefühle zu wecken (die durchaus mehr die Gefühle des Betrachters sein können und dürfen als die des Jungen im Bild), wie es eine Nahaufnahme kaum könnte?

Weil durch die Distanz der Fotografin und die vermeintliche „Überraschung“ des Jungen der Eindruck einer heimlichen Beobachtung entsteht. das Bild lässt wenig zweifel daran, dass der Kleine nicht wusste oder mindestens nicht damit rechnete, fotografiert zu werden. Er reagiert nicht, ist vollkommen in seiner Erwartung oder Beobachtung versunken, und weil wir sein Gesicht nicht sehen, können wir uns jeder selber eine Geschichte ausmalen, die allerdings im Kontext eines ein bisschen feucht-kalt anmutenden, nicht besonders fröhlichen Zelts und ein bisschen abseits stattfindet.

Ich würde nichts an diesem Bild ändern. Der vermeintlich bedeutungslose Vordergrund schafft die Distanz zum Jungen, welche die Grundstimmung überhaupt erst ermöglicht; die Blätter und der Boden lassen das Bild nach Herbst und ein wenig Trostlosigkeit und ausgeklungenem Spielvergnügen riechen. Zeltmast und Holzkiste illustrieren die Umgebung – Zirkus, Party, Spielplatz, und durch die angehobene Plane in der Ecke ist erkennbar, dass es draussen hell ist.

Die Linienführung der Komposition ist eindeutig – von unten rechts führt eine Spur Herbstblätter, im Stoff der Plane alle Falten direkt zu dem Jungen, und nachdem wir ihn gemustert und seine Stimmung, sein Tun zu ergründen versuchen, schweift der Blick über den Rest des Bildes und stellt die Situation buchstäblich ins richtige Licht.

Zu Bemängeln gibt es eigentlich nur die Schärfe oder den Mangel daran, der wohl bei einer Kompaktkamera in diesem Zelt von der langen Belichtungszeit herrührte und nicht zu vermeiden war.

Aber zur Komposition und der Fähigkeit, in diesem Moment vom Naheliegendsten Abstand zu nehmen und eine andere, recht wilde und vielleicht erst im Nachinein als wirksam erkennbare Komposition zu wählen, darum kann ich Dich nur beneiden.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
Mehr über die Profi-Bildkritik erfahren / Eigene Bilder zur Kritik einreichen.

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3 Kommentare
  1. Horst Kloever
    Horst Kloever sagte:

    Da war ich wohl als „Noch-Zaungast“ etwas vorschnell…also stelle ich mich kurz vor. Ich werde ab sehr bald für Fokussiert schreiben, eine erste eigene Bild-Kritik und mein Autorenporträt sind in diesem Moment in Vorbereitung und sollten bald zu lesen sein.

    Ich bin froh, hier auf einen kritischen und gesprächsfreudigen Geist gestoßen zu sein, lieber Matidio! Ich arbeite sehr gerne mit Fotografie im Netz und benutze es fast schon unbewusst wie einen überdimensionalen Notiz- und Skizzenblock, dazu gehört auch der Link zu dem Bild, das ich spontan während des Kommentarschreibens visuell in Bezug zu ein paar Anregungen meinerseits setzen wollte. Wenn sich Corinne dadurch übergangen fühlt, entferne ich das Bild sofort in Respekt vor ihrem Urheberrecht (interessantes Thema übrigens im Bezug auf die vielen, vielen Bilder berühmter Fotografen, die im Netz zu finden sind…und meines Erachtens im richtigen Zusammenhang wie Textzitate, z. B. in einer wissenschaftlichen Arbeit, herangezogen werden können?). Einfach eine Email an: photeur@t-online.de oder einen Kommentar an dieser Stelle!

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  2. Matidio
    Matidio sagte:

    Ich hoffe die Bearbeitung hier durch Dritte und deren Veroeffentlichung auf anderen Seiten, wird vorher mit dem Autor der Fotos abgesprochen …

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  3. Horst Kloever
    Horst Kloever sagte:

    Warum nicht direkt von hinten? Sind nicht die einfachsten Dinge meist die Besten? Ich habe mich gefragt, wie das Bild wirken würde, wenn man doch näher heran tritt und es testweise beschnitten.
    .
    (und etwas gerade gestellt, Verzerrungen bitte entschuldigen).

    Mir gefällt die Einfachheit der zwei „Figuren“. In dieser Variante der Komposition wird aus dem Bild ein kleines Werk, das es durchaus mit ein paar herausragenden Beispielen aus der Fotogeschichte aufnehmen kann (siehe Link oben. Durchblicke, Verbergen und Dualität sind große Themen bei HCB!).

    Der „Faltenwurf“ der Plane wird wichtiger im Gesamtbild, das Herbstlaub und das Licht deuten auf die Welt auf der anderen Seite hin, die der Junge mit seinem Pfeil spielerisch „in Angriff“ nimmt. Der Vordergrund wirkt mir im Originalbild zu lang gezogen, ein obsoletes Phänomen der Reportagefotografie der 70/80er, eher geeignet, um Dynamik vorzutäuschen. Distanz ist dort angebracht, wo sie Überblick verschafft, den ich in diesem Fall nicht wirklich brauche.

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