Zurück in die Zukunft: Die Fotografie nach Feininger

An den grundsätzlichen Weisheiten der Standardwerke der Fotografie wie Feiningers Fotolehre hat sich nichts geändert – und an der Kritik, wonach bessere, einfachere Technik nicht unbedingt mit mehr künstlerischer Qualität einhergeht, auch nicht.

Die hohe Schule der Fotografie von Andreas Feininger, Ausgabe 1965 © HKAls ich mein Bücherregal nach geeigneter Literatur durchsah, um mich für diesen Artikel inspirieren zu lassen, bemerkte ich zwei Dinge: Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit der Fotografie, und das Buch, aus dem ich am meisten gelernt habe, ist 48 Jahre alt. Meine Anfänge und die Veröffentlichung von Andreas Feiningers Hohe Schule der Fotografie liegen also in analoger Vorzeit.

Die erste bezahlbare Digitalkamera, die ich benutzte, kam vor zehn Jahren auf den Markt – die Nikon D1. Was hatte sich verändert? Ernsthaft fotografieren konnte man mit der D1 nicht, die Auflösung reichte höchstens für Experimente, wie zusammengesetzte QuickTime VR Panoramen, bei denen der Aufwand des Scannens der vielen einzelnen Aufnahmen vom Kleinbildfilm sehr groß war. Also ein kleiner Fortschritt für die Bildproduktion damals und eine Explosion heute: Die Menge der geschossenen und digital veröffentlichten Bilder hat sich im letzten Jahrzehnt vervielfacht.

Aber wie sieht es mit der Bildgestaltung aus? Was hat sich hier getan, ist die Fotografie auch inhaltlich weiter gekommen? Als ich [amazon 3453179757]Andreas Feiningers Buch „Fotografie“[/amazon] von 1961 aufschlug, gab mir des Vorwort zu verstehen, dass ich ein altes Problem anspreche:

„Die gewaltigen Fortschritte, die in den letzten zehn Jahren auf dem Gebiet der Fototechnik gemacht worden sind, haben das Fotografieren ständig vereinfacht und erleichtert. Durch die Zunahme halb- und vollautomatischer Regel- und Einstellvorrichtungen sind persönliche Kenntnisse und Erfahrungen mehr und mehr überflüssig geworden…Es kann heute jeder Mensch mit durchschnittlicher Intelligenz, ohne irgendwelche Schulung und Erfahrung, einfach indem er sich an die Gebrauchsanweisung hält, ein Negativ belichten und einen Film entwickeln.“

Beim Lesen ersetzte ich Negativ durch Datei und Film durch grundlegende Bildbearbeitung und wurde mir bewusst, welchen Ballast die digitale Fotografie abgeworfen hat, den ich persönlich nicht vermisse. Feiningers Worte werden auf der gleichen Seite aber wesentlich härter:

„Diese Fortschritte auf dem Gebiete der Fototechnik haben bewirkt, dass die Arbeiten des Durchschnittsfotografen, was ihre technische Qualität anbelangt, besser denn je sind. Leider aber stehen die heutigen Lichtbilder, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, hinsichtlich ihrer künstlerischen Qualität und ihrer inneren Ausdruckskraft auf einer Stufe, die vor zehn oder zwanzig Jahren aufgenommen wurden. Der technische Fortschritt hat, wie auf vielen anderen Gebieten, den Fortschritt an schöpferischer Kraft und seiner sinnvollen Nutzung weit überflügelt.“

Feininger wäre kein guter Lehrer, wenn er nicht versuchen würde, alle seine Leser zum Nachholen des Versäumten aufzurufen. Er hat mit seinen vielen Büchern, die alle neu oder sehr günstig antiquarisch erhältlich sind, ein umfangreiches „Wörterbuch der Fotografie“ geschaffen, das „eine Hilfe für jeden Fotografen bedeutet, der seine Ausdrucksskala erweitern möchte.“

Seine Bücher haben heute sogar noch einen Vorteil: Man kann die Kapitel, die sich mit der analogen Technik befassen, einfach überblättern und sich auf die „verschiedenen fotografischen Ausdrucksformen sowie Mittel- und Verfahren, mit denen ein Fotograf die große Wirkung seines Bildes bestimmen kann,“ konzentrieren, die Feininger sich voller Liebe zur Sache bemüht „systematisch darzustellen und kritisch zu bewerten.“

Kameratechniken, auf die einige digitale Verfahren wie etwa die Pseudo-Modell-Technik aufbauen, werden anschaulich beschrieben (Veränderung der Raumwirkung mit Hilfe einer Schwenkrahmenkamera, S. 63) und bieten so Stoff zum Weiterentwickeln eigener, innovativer Bildideen.

Andreas Feiningers kritischen und gleichzeitig wohlwollenden Worte sind heute noch aktueller als in den innovativen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Der technische Fortschritt hat den Turbo zugeschaltet, jede neue Kamera kann mindestens drei Dinge mehr als die von vor sechs Monaten, Kreativprogramme und Software bieten Möglichkeiten, die kein Mensch in seinem Leben jemals ausschöpfen könnte. Um sich heute ein kreatives Handwerkszeug zuzulegen, muss man eine starke Wahl der bildnerischen Mittel entsprechend der eigenen Vorlieben oder der Gegebenheiten eines Auftrags treffen.

[amazon 3453412192]Feiningers „Hohe Schule der Fotografie“[/amazon] bietet dem Anfänger einen leichten Einstieg und dem Fortgeschrittenen die Möglichkeit, seine Bildsprache kritisch zu überprüfen. Ich habe mit Genuss meine Lieblingskapitel wiedergelesen. Eines handelt von der gegensätzlichen Motivauffassung. Die Überschrift heisst: Illustration oder Interpretation? (Seite 39 der Ausgabe von 1965).

Gemeint ist im wesentlichen der Unterschied zwischen einer dokumentarischen, reportageartigen Darstellung und der kreativen Umsetzung einer Bildidee.

„Ein illustrierendes Foto ist bestenfalls interessant und informativ, ein interpretierendes Foto dagegen kann im besten Falle nicht nur interessant, sondern auch geistig anregend sein.“

Ich habe versucht, diese beiden Ansätze in den beiden Bildern auf dieser Seite darzustellen. Ich bemerkte dabei, wie schwer es mir fällt, auf Interpretation zu verzichten. Das blosse Abfotografieren des Buches reichte mir nicht. Ich habe versucht, durch eine leicht dynamische Perspektive und eine Hintergrundfarbe, die dem Zeitgeschmack der Sechziger Jahre entspricht, mein Objekt interessanter zu gestalten. Das Buch liegt auf einem orange gefilterten Leuchtfläche, so wirkt es farbig freigestellt. Dies ist eine Technik, die seit dem Bauhaus bis in die siebziger Jahre hinein in der Werbegrafik gerne verwendet wurde.

Piknik mit Andreas Feininger. ©HKIm zweiten Bild versuche ich, das Buch in ein Stillleben zu integrieren. Es ist am Rande eines Oster-Pikniks entstanden. Einzige technische Hilfsmittel sind ein Aufheller nah bei der Kamera und ein wenig mattierendes Spray (Matt dulling spray), um die Spitzlichter im Sonnenlicht im Zaum zu halten. Es ist eine sehr starke Interpretation, die dazu anregen soll, die Fotografie als Teil einer Art von „Lifestyle“ zu betrachten. Auf Nachbearbeitung habe ich bei den beiden digital aufgenommenen Bildern bewusst verzichtet.

Alles beim Alten? Versucht die digitale Kamera nur ihre alte analoge Schwester zu imitieren? Beherrscht uns diese Technik oder kann man digital weitergehen als man es vor 10 oder 48 Jahren zu denken wagte? Ich möchte herausfinden, was die digitale Technik wirklich Neues bringt und darüber berichten.

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3 Kommentare
  1. Matidio
    Matidio sagte:

    Ich hab dem Artikel eigentlich gar nichts hinzuzufuegen, ausser dass die Werke Feiningers meine Leitliteratur, was Fotografie angeht, geworden und geblieben sind. Ich habe ihn per Zufall im Buchhandel entdeckt (das einzige Werk was noch vertrieben wird, soviel ich weiss, ist „Die grosse Fotolehre“ ) als ich auf der Suche nach einem Einsteigerbuch war, das eben nicht zum x-ten Mal die Bedienung einer Digitalkamera oder eines Bearbeitungsprogramms auf dem PC beschrieb. Man bezahlte damals ein Drittel von dem, was die anderen Buecher kosteten und doch liefert es kaum besser strukturierbare und vollstaendigere Information bzgl. den Grundlagen der Fotografie. Ich habe das Buch damals in einem Zug durchgelesen und hatte Furcht manches nicht zu verstehen oder zu behalten. Unbegruendet, wenn man bereit ist sich die Information mittels Praxis zu erarbeiten und zu vertiefen. Auch kann ich die Analogartikel nur waermstens empfehlen. Anfangs moegen sie vielleicht fehl am Platze sein, aber oft finden sich nirgends bessere Erklaerungen fuer Prinzipien, die auch noch im heutigen Digitalzeitalter uneingeschraenkt gueltig sind. Bestes Beispiel ist die Erklaerung des Cropfaktors, nicht anhand von Sensorgroesse o.ae., sondern mittels Mittel- und Kleinbildformat. Auch die Erklaerungen bzgl. der analogen Schwarzweissfotografie bergen viele, scheinbar nutzlose Prinzipien, (z.B. Filterlehre), die sich jedoch unveraendert in den heutigen Bildbearbeitungsfunktionen von Programmen wiederfinden.

    Nach und nach habe ich mir dann die anderen Werke zusammengesucht, und trotzdem dass sie sich zur Haelfte in der „Grossen Fotolehre“ wiederfinden, ist die andere Haelfte doch unschaetzbares Wissen. Man nehme z.B. nur seinen Kompositionskurs, ein Buechlein von knapp 100 Seiten und doch Regeln die man kaum so zusammengefasst nochmal findet und doch wird immer wieder herausgestellt, dass es eben nur letztendlich seine persoenliche Ansichten sind (uebrigens sehr beeinflusst durch seinen Vater – Maler -) und keine allgemeingueltigen Grundprinzipien (mir liegt Feininger immer auf der Zunge wenn Peter Sennhauser seine Leitlinien auspackt :). Mittlerweile ist es meine staendige Nachttischlektuere geworden. Das mag uebertrieben klingen, aber oft, mit den inzwischen gewonnenen Praxiserfahrungen, erschliessen sich einem seine Aussagen erst nach dem dritten oder vierten Lesen und ich ertappe mich dabei, wie ich staendig versuche seine Hinweise in die Realitaet umzusetzen. Dank ihm (und natuerlich auch seiner Bilder), glaube ich, hat sich mir erst so richtig die Welt der Fotografie erschlossen…

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  1. […] wirken sehr dominant und lenken sehr stark ab. Sie stehen in direkter Konkurrenz zum Gesicht. Für Andreas Feininger sind solche hellen Bereiche am Bildrand klare Gestaltungsfehler.Ich frage mich, ob auch der […]

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