Zwiegespräch: Strassen-Schnappschuss

Die Begegnung zweier fremder Menschen zu beobachten und auch noch zu fotografieren ist eine spannende Angelegenheit. Die Herausforderung besteht darin, das Optimum einzufangen, ohne die Interaktion zu stören.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Patrick Figaj).

Kommentar des Fotografen:

Andalusisches Fest zum Ende des Sommers: Hinter den Kulissen ein alter Herr mit seinem Hund, der mit jedem, der sich ihm nähert, auch gerne mal ein Schwätzchen hält – ob man nun will oder nicht. In der Aufnahme ging es mir einerseits um die pure Situation, anderseits um den Kontrast zwischen den Personen.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Patrick Figaj:

„Menschen zusehen“ ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen in Städten und auf Reisen. Am Rande postiert, könnte ich den Ein- und bisweilen Zwei- und Dreiaktern auf Gehsteig und Strasse stundenlang zusehen:

Sie bringen die Mentalität eines Landes oder einer Stadt besser zum Ausdruck als jede Verhaltensforschung.

Mit dieser Aufnahme hast Du zweifellos die grösste Herausforderung dieser Art der Strassenfotografie gemeistert: Du hast die Interaktion der beiden Menschen in einer sehr natürlichen Art und dabei ausdrucksstark eingefangen. Darüberhinaus allerdings weist die Aufnahme einige Mängel auf, die sich zumindest teilweise hätten verbessern oder vermeiden lassen.

Zunächst: Eine solche Szene im Bild festzuhalten, sei es nun um der einzelnen Situation willen oder um eine typische Geste einzufangen, ist meiner Ansicht nach eine fotografische Königsdisziplin. Wohl kann man sich heute mit Hilfe unserer Super-Telezooms in jede Begegnung auf Distanz einschalten. Aber erstens ist das doch sehr mittelbar und nicht ganz anständig. Und zweitens lässt sich ein besserer Winkel nur mit ziemlich langen Wegen erreichen, wobei nicht sofort absehbar ist, ob sich das Geschehen vom neuen Standort aus überhaupt noch ohne Hindernis beobachten lässt.

Professioneller, höflicher und sehr viel schwieriger ist es, die Szene aus nächster Nähe abzulichten. Das grösste Problem besteht dabei darin, die Interaktion der Beteiligten nicht zu beeinflussen. Oder aber – und das ist wohl die Kunst der besten Strassen-Fotografen – zwar sichtbar anwesend zu sein, beiläufig die Zustimmung der fotografierten Personen zu erlangen, und sich zugleich aus der Aktion herauszuhalten. Das gelingt meistens am besten, wenn die Fotografin selber in einer Beziehung zu den Akteuren steht: Beispielsweise an einem Fest oder einem Anlass, an dem mit knipsenden Gästen und Profis gerechnet werden muss und der gleiche Fotograf immer wieder auftaucht. Nach kurzer Zeit entspannen sich die übrigen Gäste und kümmern sich nicht mehr um den Mann oder dei Frau mit der Kanone. Das wissen die guten Fotografen auszunützen, indem sie zum Teil der Umgebung werden.

Und die wirklich guten schaffen es, diese lockere Beziehung binnen weniger Minuten auch zu ihnen vollkommen Unbekannten herzustellen. Das funktioniert auf der Strasse genauso wie im Ballsaal. Aber es ist eine psychologische Fähigkeit, die Übung verlangt und sich durch die beste digitale Technik nicht ersetzen lässt – eine Frustrationsquelle für viele Anfänger. Das war einer der meitzitierten Gründe, waru viele Reportagefotografen mit einer kleinen, leisen Sucher-Leica hantierten. Wer heute an der Hochzeit des Freundes mit einer riesigen Nikon mit Blitzaufbau und Diffusor auftaucht, wird Mühe haben, dicht an den Menschen das Geschehen und die Stimmung einzufangen, ohne dass sich immer sofort alle ihm zuwenden.

Du hattest den Status des akzeptierten und zugleich ignorierten Beobachters, den man für solche Aufnahmen braucht, bei dieser Gelegenheit offensichtlich bereits erreicht, denn mit einer Brennweite von 64mm kannst Du nicht sehr weit von den beiden im Bild entfernt gestanden haben. Sehr schön eingefangen finde ich den Ausdruck freundlicher, aufmerksamer Zuhörerschaft im Gesicht der jungen Artistin, der überaus natürlich wirkt. Auch die Haltung des älteren Herrn, der, an den Baum gelehnt und ein Bein entlastend, sich offensichtlich auch nicht um die Kamera schert, ist sehr bezeichnend.

Wirklich spannend wird das Bild durch die Stelzenbeine der Artistin und ihre erhöhte Position. Etwas abschwächend ist die langweilige Stellung des Hundes, auch wenn er der Situation zu einem Dreieck verhilft – würde er sitzen oder liegen oder sich irgendwie aktiv betätigen, wäre eine weitere Spannungsbene vorhanden.

Aber während Du auf diese Dinge nur reagieren kannst, hättest Du das Bild kompositionsmässig durchaus gestalten können. Mit zwei Schritten nach links zum Beispiel, um mehr vom Gesicht des Herrn in den Blickwinkel zu kriegen.

Oder mit einem Schnitt relativ nah am Kopf der Artistin, um den ausgebrannten Himmel und die aus dem Nichts ins Bild ragenden Blätterbüschel auszublenden. Vielleicht hätte sich sogar, um der überhöhten Position der Frau noch mehr Aufmerksamkeit zu verleihen, eine tiefere Perspektive, fast schon auf der Augenhöhe des Hundes, angeboten.

Ich versuche bei solchen Gelegenheiten, in kurzer Zeit so viele Variationen wie möglich zu machen und bemühe mich dabei, die Akteure nicht abzulenken. Das schliesst zum Beispiel aus, dass man sich sofort platt auf den Buch fallen lässt und die Froschperspektive versucht. Aber eine Bildreihe mit leicht verschobenem Standort ist eine der starken Lernerfahrungen, die für einmal nicht so sehr erst mit der Digitaltechnik möglich wurde, aber sich bei Familienfesten und anderen lockeren Anlässen zum üben anbietet.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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