Eva Leitolf: Das Sichtbare und das Vorstellbare

Eva Leitolfs Postkarten aus Europa zeigen Orte, an denen Grenzen gezogen werden: zwischen drinnen und draußen, zwischen uns und denjenigen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind.

Eva Leitolf - Leitern, Melilla 2006, aus: Postcards from Europe, Offenes Archiv aus Fotografien und Texten, seit 2006, c-print, 81 x 69 cm, courtesy Eva Leitolf © VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Eva Leitolf fotografiert nüchtern und dokumentarisch. Ihre Bilder von Europas Grenzposten lassen auf den ersten Blick nur ahnen, was dort geschehen sein könnte.

Die Spannung zwischen dem Sicht- und dem Vorstellbaren füllt Eva Leitolf mit den Texten, die sie ihren „Postcards from Europe“ beifügt. Die Texte sind unter anderem Medienberichte, Protokolle und Gesprächen mit Journalisten und ähnliches. Wie die Bilder selbst sind sind in einer nüchternen Sprache gehalten, die sich auf das Faktische beschränkt. Zu ihrer Fotografie „Leitern, Melilla 2006“ etwa lautet der Text so:

Nachdem im Herbst 2005 bekannt wird, dass die spanische Regierung die Sicherungsanlagen verstärken lassen will, versuchen während der folgenden Wochen fast täglich Hunderte von Flüchtlingen, den Grenzzaun um die spanische Exklave Melilla mit selbst gebauten Leitern zu überwinden. Nach Zeugenaussagen setzt die Guardia Civil elektrische Keulen, Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Mindestens 14 Menschen sterben aufgrund ihrer Verletzungen durch den messerscharf bewehrten stählernen Grenzzaun oder werden – nach Darstellung der spanischen Regierung – von marokkanischen Soldaten erschossen.

Der Sprecher der Hilfsorganisation Fundación Prodein mutmaßt, die Regierung stelle die Leitern medienwirksam zur Schau, um die angewendete Gewalt als Reaktion auf eine „unaufhaltsame Lawine von Migranten“ zu rechtfertigen. Im selben Jahr beschließt die Europäische Union, Marokko 40 Millionen Euro, vor allem für Polizeimaßnahmen und die Grenzsicherung, zur Verfügung zu stellen.

Der Spiegel, 27.9.2005; Gespräch mit José Palazon/Fundación Prodein, Melilla, 6.1.2009

Im Zentrum zahlreicher Projekte der Fotografin Eva Leitolf (Jahrgang 1966) steht der Begriff der Heimat. In ihrer nüchternen, emotional bereinigten Bildsprache untersucht die Künstlerin, was dieser Begriff konstruiert, der mit einem Wechsel von Perspektiven zugleich Ein- und Ausgrenzungen impliziert. In zum Teil mehrjährigen Projekten konzentriert sich die Fotografin auf Orte, die symptomatisch für den Diskurs um diese Ein- und Ausgrenzungen stehen. Ihre Arbeit „Deutsche Bilder – eine Spurensuche“ haben wir hier bei fokussiert.com schon einmal vorgestellt: Deutsche Bilder. Es geht um fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten in Deutschland und den über sie gesellschaftlich geführten Diskurs – dargestellt in Bildern von Tatorten und deren Umgebung.

[photos]

Mit den „Postcards from Europe“ erweitert Leitolf seit 2006 ihren Arbeitsradius um Gesamteuropa. Bislang hat sie dafür Spanien, die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, die ungarisch-ukrainischen Grenze, die Hafenstädte Calais und Dover, Griechenland und Italien bereist. Auch für dieses Projekt hat Leitolf die Orte des Geschehens aufgenommen. Innerhalb dieser dokumentarischen Spurensuche unternimmt Leitolf den Versuch, den Umgang der europäischen Staaten mit ihren Außengrenzen und den damit verbundenen Konflikten im Inneren abzubilden. Der Schwerpunkt der Arbeiten liegt dabei nicht auf einer Opfer- oder Leiddarstellung von Flüchtlingen. Es geht ihr darum, die systematischen Verfahrensweisen der europäischen Staaten offenzulegen, die Zuwanderer zu erfassen, zu verwalten und dabei die Festung Europa zu schützen. „Postcards from Europe“ ist eine Langzeitstudie und angelegt als ein offenes Archiv.

Eva Leitolf, die bei Prof. Angela Neuke in Essen sowie in den USA unter anderem bei dem amerikanischen Medientheoretiker und Künstler Allan Sekula in Kalifornien studierte, verbindet in ihren Bild-Text-Arbeiten journalistische, künstlerische und konzeptionelle Ansätze miteinander. Wir finden dazu mehr auf Eva Leitolfs Website. [amazon 3868283986]Postcards from Europe 03/13 [/amazon]ist in diesem März auch als Bildband im Kehrer-Verlag Heidelberg erschienen.

Eva Leitolf – Postcards from Europe
Bis 4. August
Sprengel Museum Hannover, Kurt-Schwitters-Platz, D-30169 Hannover
+49 (0)511-168 4 38 75, sprengel-museum@hannover-stadt.de
Geöffnet Dienstag 10 – 20 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 10 – 18 Uhr

Eva Leitolf
Sprengel-Museum Hannover

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