Architektur: Spiegelphilosophie

Vor allem moderne Gebäude mit ihren hohen Glasanteilen ermöglichen faszinierende Spielereien mit Spiegelungen.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Thomas Deuer).

Kommentar des Fotografen:

Reflexion und Politik. Mich faszinieren Verfremdungen, andere Sichtweisen, Überraschungen und letztendlich das, was an Kopfkino dabei resultiert. Die drei verschiedenen Ebenen faszinierten mich, die ich in diesem Foto versucht habe einzufangen. Wo hört das Rückwärtige auf und fängt das Vordergründige an?! Dieses Bild entstand mit einem Neutralfilter (8) bei Blende 20 und 2,5 Sekunden. Mit PS etwas entzerrt, Kontrast geringfügig erhöht und beschnitten.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Thomas Deuer:

Das Kanzleramt in Berlin präsentiert sich in dieser Farbfotografie aus einem vermeintlich statischen Blickwinkel – frontal aus einer der Lücken zwischen der Kette von Bauten. Unter dem auf hohen Säulen stehenden Dach zwischen den Gebäuden allerdings erstreckt sich ein Gang mit gewienertem Boden, hinter dem Gebäude scheint sich ein Lichthof zu öffnen, der da eigentlich nicht sein kann; im blauen, mit kleinen Wölken duchsetzten Himmel schimmern wie in einer Überblendung weitere Fassadenteile durch, die in den Fluchtpunkt hinaus verlaufen. Erst nach eingiebiger Betrachtung wird klar, dass die Aufnahme die Spiegelung ind er Glasfassade eines der Gebäude zeigt.

Spiegelungen vermischen in der Fotografie Realität und Abbild viel „wirksamer“ als im Leben, weil sie dem Betrachter keinen Ausweg und keine Umgehung der Spiegelung erlauben.

Im Alltag erleben wir keine Spiegelung dermassen radikal und abrupt, wie wir sie in dieser Fotografie sehen: Wer auf eine spiegelnde Glasscheibe zugeht, sorgt mit der ständig wechselnden Perspektive und seinem räumlichen Sehen dafür, dass sein Gehirn augenblicklich Spiegelbild und physisch vorhandenen Bau trennt und die Bilder aufschlüsselt.

In zweidimensionalen Fotografien dagegen lassen sich Abbild und Gegenstand nicht mehr trennen, unser Wahrnehmungszentrum hat keine Anhaltspunkte mehr. Das führt zu Synthesen von Bildelementen und Ansichten – und namentlich in der Architektur, die von Geraden und Winkeln geprägt ist, zu völlig neuen Ansichten.

Dem Fotografen bleibt dabei ein schier unerschöpflicher Gestaltungsspielraum: Je nach Blickwinkel und Belichtung, nach Standort und Bildkomposition rücken andere Elemente des Potpurris in den Vordergrund, werden erkennbar und schaffen bisweilen regelrechte Vexierbilder.

Die Raffinesse in Deinem Vorgehen hier besteht darin, dass sich meherere Spiegelungen und die Realität zu vermengen scheinen und zugleich die unmittelbare Nähe zum eigentlichen physischen – der Glaswand, in der sich das vermeintliche Hauptmotiv spiegelt – die Realität kaum mehr fassbar macht.

Die Realität ist hier der Blick in ein Gebäude, die Spiegelung gaukelt aber dominant eine Aussenansicht vor, die erst beim zweiten Hinsehen nicht da sein kann, worauf sich erst die realen Innenansichten zu kristallisieren beginnen.

Dem Verwirrspiel dienlich sind die unzähligen Formen und Elemente, die in diesem Bauwerk ohnehin ineinander verschachtelt sind. Starke Vertikale und viele lange Geraden, die allesamt in einen, durch die vielen Vektoren akzentuierten Fluchtpunkt verlaufen, dabei aber teils Spiegelung, teils Realität und teils Spiegelung in der Spiegelung sind.

Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass das Bild noch etwas stärker und offensichtlicher als Synthese wirken würde, wenn die Spiegelung der Aussenansicht nicht gar so dominant wäre.

Ich habe als Eselsbrücke (mit beschränktem Wahrheitsgehalt) die Verkleinerung auf eine Miniatur entdeckt, seit wir die Bildkritik anbieten. Die eingeriechten Bilder sind nämlich im Katalog, aus dem wir auswählen, nur in kleinformatigen Vorschauen zu sehen. Aufnahmen mit eindeutigem „Kick“ haben dabei einen Vorteil – Deine Aufnahme wirkte beim flüchtigen Drüberschauen wie eine weitere Aussenansicht des Kanzleramtes.

Würden Spiegelung und Innensicht noch stärker ineinander einfliessen – wie es in manchen Gemälden des Foto- und Hyperrealismus zu sehen ist, was interessanterweise in Gemälden einfacher ist zu bewerkstelligen ist als in der Fotografie, jedenfalls vor dem digitalen Zeitalter.

Ich denke, um mit fotografischem Handwerkszeug eine stärkere Mischung zu erwirken, hätte ein Polfilter weitere Dienste kleisten können, mit dem Du den Spiegelungsgrad der Glaswand stufenlos hättest regeln können.

Mich hat Deine Aufnahme jedenfalls ausreichend fasziniert um Lust zu kriegen, das selber zu versuchen – und dabei den Polfilter mitzunehmen.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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2 Kommentare
  1. Thomas D.
    Thomas D. sagte:

    Hallo Peter
    Vorab ein Danke für Deine Beurteilung. Wenn Du schreibst, dass erst ein dritter Blick das Verwirrspiel fassbar macht, dann ist auch genau das geschehen was ich mir vorstellte und hoffte, dass ich es einfangen kann.

    An einen Polfilter hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich hatte mit Zeit und Blende gespielt. Das mit der „..stärkere Mischung..“ muss ich mir mal durch den Kopf gehen lassen.

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