Boris Mikhailov: Alltag aus den Fugen

Boris Mikhailovs Themen ist der Alltag der Menschen vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Vor allem danach ist der Alltag dort aus den Fugen geraten.

Boris Mikhailov: ohne Titel (aus der Serie Case History)
In den Neunzigerjahren wurde dieser Alltag für viele zur existenziellen Überlebensfrage und Boris Mikhailov zeichnete diese „Krankengeschichte“ auf.

Schon vorher unter dem Sowjetregime war der Alltag nicht gerade einfach. Diese Bedingungen spiegeln sich in der Entwicklung des Fotografen Boris Mikhailov, geboren 1938 in Charkov, Ukraine: Fotografie galt in der Sowjetunion nicht als Kunst. Wer mit künstlerischem Anspruch fotografierte, war entweder Amateur oder Journalist. Auch Boris Mikhailov trat während der Zeit des Sowjetregimes als Fotograf öffentlich nicht in Erscheinung. Er verzichtete jedoch nicht darauf, seine künstlerischen Neigungen auszuleben: So durfte er einen Kurzfilm über die Fabrik drehen, für die er als Ingenieur arbeitete. Als jedoch private Aktfotos wegen „pornografischen Inhalts“ konfisziert wurden, kostete ihn das die Anstellung. Doch bereiteten die verbotenen Bilder seinen Weg jenseits des anerkannten sozialistischen Realismus‘ hin zu einer künstlerisch freien Fotografie.

Boris Mikhailov: Superimpositions for the 60s/70s

Der Hasselblad-Preisträger des Jahres 2000 experimentierte als fotografischer Autodidakt seit seinen Anfängen Mitte der Sechzigerjahre mit den vielfältigen Möglichkeiten des Mediums. Einerseits bearbeitete Mikhailov Fotografien mit künstlerischen Methoden, etwa Überblendungen oder Kolorierungen. In vielen anderen Serien dagegen blieb er bei einer dokumentarischen Herangehensweise. Über seine Arbeit sagte Boris Mikhailov:

„Meine Aufmerksamkeit zielt auf das Gewöhnliche und Alltägliche. Ich suche nach formalen Lösungen, dieses Alltägliche in der Fotografie abzubilden.“

Boris Mikhailov: Ohne Titel aus der Serie Black Archive, 1968-1979

Weil Boris Mikhailov während der Sowjetzeit nur inoffiziell im Privaten wirken konnte, begann sein Leben als international anerkannter Fotokünstler erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Mit Hilfe von Stipendien konnte er im Ausland arbeiten und ausstellen. 1996 kam er ein Jahr nach Deutschland und pendelt seit dem Jahr 2000 zwischen seinem Wohnsitz in Berlin und der Ukraine, wo bis heute die meisten seiner fotografischen Arbeiten entstehen.

Boris Mikhailov: Rote Serie, 1968-75


„Case History“ – die Krankengeschichte – ist Mikhailovs vielleicht bekannteste Fotoserie. Wir erfahren dazu aus dem Begleittext zur Ausstellung:

Als Boris Mikhailov nach seinem Berlinaufenthalt 1997 nach Charkow zurückkehrte, fand er eine Stadt vor, die zwar aufgeräumt aussah und anderen europäischen Städten zunehmend ähnelte. Die soziale Schere aber war seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgeklappt; eine Mittelschicht gab es praktisch nicht mehr. Dafür hatte sich die Zahl der Obdachlosen drastisch erhöht. Alte Menschen und besonders Kinder hatten alles verloren: ihr Zuhause, ihre Zukunftsperspektive und den Respekt ihrer Mitbürger. Boris Mikhailov und seine Frau Vita näherten sich den Ausgestoßenen an, porträtierten sie und ließen sich von ihnen ihre Wunden und gebrochenen Körper zeigen. In den meisten Fällen bezahlten sie die Obdachlosen dafür. Die Drastik der Bilder der fast 400 Fotografien umfassenden Serie hat viele Betrachter verstört. Erste Präsentationen zogen eine Welle der Empörung nach sich. Boris Mikhailov jedoch wollte mit „Case History“ (Krankengeschichte, 1997-1999) nie provozieren. Ihm lag es vielmehr am Herzen ehrlich zu zeigen, in welchen Abgrund die ukrainische Gesellschaft nach dem Ende des Kalten Krieges gestürzt war und welches Leid jene erdulden mussten, die kein funktionierendes Sozialsystem auffing.

Boris Mikhailov: Salt Lake, 1986/1997

Unter dem Titel „Time is out of joint“ – die Zeit ist aus den Fugen – sehen wir aktuell in Berlin einen Überblick über Mikhailovs Werk seit 1966 bis heute. Dazu erscheint Mitte März der Katalog [amazon 3942405644]Boris Mikhailov[/amazon], den die Berlinische Galerie im Distanz-Verlag herausgibt. Das Buch zur Serie „Case History“ gibt’s derzeit nur zu Sammlerpreisen, dafür ist aber zum Beispiel das Buch zu [amazon 390824742X]The Hasselblad Award, 2000 [/amazon] günstiger erhältlich.

Boris Mikhailov: In the Street, Berlin, 2001/2003

Boris Mikhailov: Time is out of joint. Fotografien 1966 – 2011
Bis 28. Mai
Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124-128, D-10969 Berlin
+49 (0) 30-789 02-600, bg@berlinischegalerie.de
Geöffnet Mittwoch bis Montag 10 – 18 Uhr

Boris Mikhailov bei Wikipedia
Berlinische Galerie

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