Leserfoto – „Tod und Leben“: Näher ran

Negativer Raum als Gestaltungselement funktioniert nur, wenn er die Bildaussage unterstützt.

(c) Jörg Oertel

Dieses Bild symbolisiert für mich in einzigartiger Weise Tod und Leben, Vergänglichkeit und Wiederkehr in der Natur.
Ich finde es anrührend, wie sich das kleine Vergißmeinnicht aus dem toten Baumstumpf zum Leben kämpft.

Der Unterschied zwischen „schauen“ und „sehen“ ist, im Alltag Motive zu entdecken, an denen andere vorbeigegangen wären. Wenn man sein Auge schult, bieten sich einem überall Dinge, die es sich zu fotografieren lohnt. Hier ein interessantes Muster, das ein Baumschatten auf das Pflaster „malt“ – oder dort eine Blume, die aus einem Baumstumpf herauswächst.

Du hast uns eine Aufnahme eines Vergißmeinnicht eingereicht, das in der Mitte eines abgeschlagenen Baumes ein Heim gefunden hat. Im Amerikanischen nennt man solche Bäume „nursery log“, zu Deutsch etwa „Krippenbaum“. Es hat sich in der mittig entstandenen Vertiefung, wo sich einmal der Kern des Stammes befunden hat, wie in einem Blumentopf angesiedelt und fristet dort jetzt sein Dasein. Auch ich sehe hier ein Gleichnis von Tod und neuem Leben. Es bedurfte eben jenen Auges, um diese Szene wahrzunehmen.

Das Bild entstand mit einer Nikon D300S und einem 17-70mm f/2.8-4 Objektiv bei 70 mm (105 mm Vollvormatäquivalent) – vermutlich von Sigma, wenn auch die Marke aus den EXIF-Daten nicht ersichtlich war. Fotografiert hast Du in einem Automatikmodus (EXIF listet generell nur „Auto“) mit ISO 200, Blende f/4 und 1/1250s Verschlußzeit. Dieses Objektiv ist ein gutes mittleres Makro, mit dem man maximal 22 cm an sein Motiv herankann. Das ist für manche Objekte immer noch zu weit weg.

Die Herausforderung nicht nur bei Fotografie im allgemeinen, sondern auch bei Nahaufnahmen im besonderen ist, die Kamera dazu zu bringen, genau das abzubilden, was das menschliche Auge gesehen hat – keine Ausrüstung ist so gut, wenn auch einige ziemlich nahe kommen. Hier ist Dir die Blume aufgefallen, und Du wolltest sie mit der Kamera festhalten. Du hast ein Makroobjektiv, mit dem man relativ nahe an die Dinge herangehen kann, aber nicht nahe genug, damit das Motiv hier den Bildrahmen füllt. Ab einem bestimmten Abstand kann die Linse physisch nicht mehr auf das Objekt scharfgestellt werden. Du hast also für diese Situation die für Dich idealste Aufnahme gemacht. Herausgekommen ist dabei ein Foto mit ein paar kleineren Mängeln, die aber leicht korrigiert werden können.

Zunächst einmal zum Technischen. Ich empfehle grundsätzlich, bei Makroaufnahmen mit Stativ und im Manuellmodus zu fotografieren. Du hattest hier Glück, denn die Kamera hat für Dich Einstellungen gewählt, die „gepaßt“ haben. In ungünstigeren Lichtverhältnissen wäre unter Umständen ein leicht unscharfes, blasses Bild dabei herausgekommen.

Ich hätte außerdem ISO 100 vorgewählt, um Bildrauschen zu minimieren. Das fällt zwar bei modernen DSLRs nicht mehr so auf, aber die Szene war so hell, daß es die Verschlußzeit nicht dramatisch verlangsamt hätte.

Kompositionell ist zu sagen, daß Du die Blume fast perfekt im Goldenen Punkt angeordnet hast (rosa). Das Motiv ist einfach gehalten, was grundsätzlich bei dieser Art Aufnahme zu begrüßen ist, und durch die lange Brennweite in Verbindung mit der großen Blende ist es gut freigestellt.

Goldener Schnitt

Was ich hier ändern würde, ist hauptsächlich auf den enormen Negativen Raum bezogen. Du bist so nahe an die Blume herangegangen, wie es Deine Ausrüstung zugelassen hat. Das war aber, wie oben erwähnt, nicht nahe genug, um den Bildrahmen vollständig auszufüllen. Weil das Vergißmeinnicht so klein ist, geht es hier optisch etwas unter – der Negative Raum um es herum ist zu groß, und er trägt nicht wirklich zum Bild bei.

Ich würde deshalb vorschlagen, das Foto zu beschneiden:

Beschnittvorschlag

Du hast immer noch genug Kontext mit in der Aufnahme, daß nicht verloren geht, worum es sich hier handelt (eine Blume, die aus einem Baumstumpf herauswächst), aber die Komposition verdichtet sich wesentlich. Deine Kamera ist gut genug, daß ein entsprechender Beschnitt vorgenommen werden kann, ohne daß die technische Bildqualität darunter leidet.

Die Blume befindet sich immer noch im Goldenen Punkt:

Vergleichsfoto

Last but not least kannst Du Dir überlegen, ob Du die Farbsättigung etwas anhebst:

Leicht erhöhte Farbsättigung

Du hast das Vergißmeinnicht in hellem Tageslicht fotografiert, wodurch die Farben etwas ausgebleicht sind. Das scheinst Du zwar nachträglich korrigiert zu haben, aber man könnte noch etwas nachlegen.

Ansonsten Glückwunsch zu einem Schnappschuß, an dem viele wohl vorbeigegangen wären.

7 Kommentare
  1. Jörg Oertel
    Jörg Oertel sagte:

    Hallo Sofie,
    danke für Deine Kritik. Da ich das Bild schon vor einiger Zeit eingereicht hatte, habe ich in letzter Zeit nicht so häufig hier reingeschaut und deshalb die Bildbesprechung auch erst jetzt gesehen.

    Zu Deiner Kritik des zu großen „negativen“ Raums möchte ich entgegnen, dass es mir besonders um die Darstellung der Leere und des einsamen Kampfes ums Leben ging. In Deinem Beschnitt ist es ein netter Blümchen-Schuss, aber ein Teil der von mir gewünschten Aussage wäre verloren.

    Ich habe von dem Motiv übrigens mindestens 30 Bilder gemacht, auch zu unterschiedlichen Tageszeiten. Die Automatik, die ich eingestellt hatte, war die Zeitautomatik, weil ich die Blende als bildbestimmenden Parameter selbst wählen wollte. Der Unterschied zwischen 100 und 200 ISO ist bei der D300s übrigens nicht relevant. 200 ISO ist die native Einstellung des Sensors.

    Viele Grüße,
    Jörg

    Antworten
    • Sofie Dittmann
      Sofie Dittmann sagte:

      Eigentlich hättest Du eine Benachrichtigung bekommen sollen. Werde mal bei Peter nachhaken. Wie dem auch sei, daß das mit dem ISO nicht ins Gewicht fällt, hatte ich ja bereits erwähnt.

      Was den Raum angeht, ist das eben *meine* Meinung. Du kannst natürlich so viel Raum drum lassen, wie du möchtest. :)

    • Jörg Oertel
      Jörg Oertel sagte:

      Hallo Sofie,
      ich habe nochmal meine alten Mails durchgeforstet. Ich habe keine Benachrichtigung erhalten. Ist aber nicht schlimm, hab’s ja auch so gesehen.

      Versteh‘ mich nicht falsch. Ich wehre mich nicht gegen Deinen Vorschlag des Beschnitts. Ich wollte nur meine Intention für den vielen leeren Raum erläutern.

    • Sofie Dittmann
      Sofie Dittmann sagte:

      Nene, Du mußt Dich doch nicht rechtfertigen. Ich rechtfertige mich für meine Meinung ja auch nicht. Wenn Du fünf Leute, insbesondere, wenn sie Fotografen sind, zu einem Foto befragst, bekommst Du locker acht Antworten. Ist alles relativ.

  2. Chilled Cat
    Chilled Cat sagte:

    Erst mal vielen Dank für das tolle Motiv an Jörg.

    Wie laderio bin ich dafür, dem Vergissmeinnicht etwas mehr Raum zu spendieren, damit der Kontrast zwischen dem kleinen Blümchen und dem großen Baumstumpf besser zur Geltung kommt.

    Varianten, die ich mir auch gut vorstellen könnte:
    – Mit tieferem Standpunkt, so dass die Blume vor dem dunkelgrünen Hintergrund liegt.
    – Weiter nach unten geschwenkt, so dass mehr Baumstumpf und weniger grüner Hintergrund im Bild ist.

    Antworten
  3. laderio
    laderio sagte:

    Ich hatte das gleiche Objektiv an einer D5100 und einer D7100. Mit dem Objektiv kann man schon noch deutlich näher ran gehen. Immer bedenken, die Naheinstellgrenze rechnet sich ab Sensor, nicht ab Objektivende. Ich hatte etwa 5-10 cm Abstand bei Makros. Technisch war hier also noch keine Grenze.

    Der Ansatz aber näher ran zu gehen ist wohl richtig. Für meinen Geschmack ist bei der 2ten Variante aber zu wenig Platz übrig. Vielleicht wäre die Mitte zwischen beiden Bildern besser.

    Antworten
    • Sofie Dittmann
      Sofie Dittmann sagte:

      Da kommt dann der persönliche Geschmack ins Spiel. Lade doch mal Deine Variante hier hoch – dann können wir vergleichen.

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