Negativer Raum: Spannung und Disharmonie

Ist Ausgewogenheit eine gute Sache – oder sollen uns Fotos aus dem optischen Gleichtritt bringen? Negativer Raum – Fläche, die vermeintlich nicht zum Bild beiträgt – ist hier nicht das einzige, was uns stutzen lässt.

Stephan Kälin
Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Stephan Kälin). – NIKON D70s – 1/320s – f/9 – 70mm (105mm)

Profi Douglas Abuelo meint zum Bild von Stephan Kälin:

Hier wurde eine gefällige Komposition und ein schöner Gebrauch des Panoramaformats mit, mag es zum Guten oder Schlechten sein, einer leicht beunruhigenden Atmosphäre verbunden. Recht interessant ist, wie der Turm hinter den Bäumen hervorlugt. Dies gibt uns das Gefühl, wir würden etwas Verstecktes oder sogar Verbotenes betrachten, was dem Voyeur in uns ein Gefühl von Geheimnisvollem vermittelt.

Der Turm, das Licht, die Bäume und Wolken sind die wenigen Elemente in einer sparsamen Komposition, in der negativer Raum gut genutzt wurde. Negativer Raum ist ein einfaches, aber effektives Mittel, die Aufmerksamkeit voll auf das Objekt zu richten, während man eine ungewöhnliche Komposition kreiert, die ziemlich beeindruckend sein kann.

Das beunruhigende Gefühl kommt meiner Meinung nach von der Laterne, die links der Turmspitze hängt und die Komposition aus dem Gleichgewicht bringt.

Die Baumwipfel befinden sich an der unteren Linie des Goldenen Schnitts. Das, sowie die vertikale Linie des Turms und der Gebrauch von Panorama im Hochformat, zwingen unsere Augen regelrecht nach oben. Aber die weiße Lampe, der hellste Punkt im Bild, fungiert wie eine Art Bremse:

Zugleich zieht sie unseren Blick herüber nach links, denn sie hängt links der zentralen Fläche des Turms. Die Linie des Kabels führt uns dann aus dem Bild heraus.

Dieses kleine Detail reicht aus, um die Komposition unharmonisch erscheinen zu lassen und uns ein Gefühl von Beunruhigung zu geben.

Damit kommt die Frage auf: ist diese Portion Spannung für dieses Foto geeignet? Typische Postkarten sind total ausgewogen, mit blauem Himmel oder im Sonnenuntergangslicht. Dabei gibt es keinen Grund, innezuhalten, nachzudenken, keine Spannung oder Disharmonie.

© Stephan KälinOhne die Lampe wäre dieses Foto ähnlich, denn wir würden unseren Blick vom unteren zum oberen Rand schweifen lassen, und das war’s. Aber so, wie es jetzt ist, werden wir ein bisschen neben der geläufigen Route unseres Blicks aufgehalten. Während dies ein wenig disharmonisch ist, zwingt dieses Detail uns, dem Bild mehr Aufmerksamkeit zu schenken und einen weiteren Blick auf es zu werfen, um den Weg durch die Komposition zu finden.

Bevor unser Blick nach oben und dann aus dem Bild geleitet wird, nimmt er eine kleine Umleitung. Normalerweise gefällt mir eine solche kleine Umleitung oder Spannung, aber hier bin ich mir nicht sicher, ob es passt.

Im Beispiel habe ich die Laterne über den Turm gerückt, was dem Foto Balance gibt und die Disharmonie beseitigt. Ich würde nicht sagen, dieses Bild ist besser oder schlechter als das Original, beide geben uns schlicht verschiedene visuelle Eindrücke.

Es wäre interessant zu sehen, was die Leser meinen.

In der Rubrik «Bildkritik» analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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3 Kommentare
  1. monocut
    monocut sagte:

    hier muss man nicht nur ein auge auf die komposition haben, sondern auch auf die aussage des inhaltes.

    was bedeutet es diesen turm mit seiner speziellen architektonischen codierung in verbindung mit einem“modernen“ leuchtmittel zu sehen? welche weitere bedeutung könnte die gewitterstimmung (die meiner meinung nach sehr gut erkennbar ist) in diesem zusammenhang haben?

    dieses bild ist eine zeitmaschine. und ob die leuchte nun etwas weiter links oder rechts steht ist dafür nicht von bedeutung.

    dadurch, dass der turm angeschnitten und die leuchte nicht im zentrum ist bekommt man einen hinweis darauf, dass weder das eine noch das andere von zentraler bedeutung ist. es geht nicht um den turm oder die leuchte. es geht um das dazwischen.

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  2. patrick
    patrick sagte:

    interessieren würde mich wie das farbige bild aussieht. da wäre evt. die gewitterstimmung besser sichtbar. und wieso die lampe rausnehmen? probiers mal mit dem turm.

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  3. P4X
    P4X sagte:

    herzlichen dank für die diskussion meines bildes. ich erlaube mir als fotograf des bildes einen kommentar zur lampe.
    ich hab mich vor einreichung des bildes gefragt, ob ich die lampe rausnehmen soll. hab mich dann aber dagegen entschieden, weil für mich das bild ohne lampe wie das untere bild aussehen würde. eher langweilig, da wie schon besprochen, der blick von unten nach oben geht und nirgends hängen bleibt. mir wäre das ganze zu harmonisch, was meiner meinung nach nicht zum wetter und der daraus resultierenden stimmung passwn würde. schade ist, dass es mir nicht gelungen ist die stimmung vor dem gewitter besser einzufangen. dann wäre auch klar geworden, dass symmetrie und harmonie nicht zum wetter passen würden.

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