Road Atlas: Spurensuche und Anregung

Was macht die Faszination der Straßenfotografie aus? Was unterscheidet sie vom reinen Schnappschnuss? Was macht aus dem Schnappschuß Kunst? Der Bildband «Road Atlas – Straßenfotografie von Helen Levitt bis Pieter Hugo» (Hirmer Verlag) widmet sich diesen Fragen.

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Die Straßenfotografie ist Fotografie in ihrer wohl ursprünglichsten Form. Denn – so der einleitende Essay von Freddy Langer – Louis Jacques Mandé Daguerre machte seine ersten fotografischen Versuche, indem er 1838 seine Kamera auf den Pariser Boulevard du Temple richtete. Das Ergebnis:

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Eine Sraßenfotografie. Durch die lange Belichtungszeit erscheint der belebte Boulevard menschenleer, nur ein Mann, der lange genug verharrte, ist noch zu sehen – und gibt Anlass für Fragen.

Bis heute hat die Straßenfotografie nichts von ihrer Faszination verloren. Wohl auch deshalb, weil sie so vieles vereint: Architektur, Landschaft, Menschen. Sie erlaubt Milieu- und Menschen-Studien, Dokumentation, zeit- und sozialkritische Aufnahmen. Sie vermittelt Ernst, schafft Betroffenheit oder kommentiert das Gesehene mit Humor und Ironie. Wie nur wenige andere fotografische Genres erlaubt die Straßenfotografie einen Blick auf die Zeit, die Verhältnisse und auf die Menschen. Sie ist Zeitdokument, Kommentar und Analyse. Das kann in der Stadt sein oder auf dem Land. Das kann spontan oder gestellt sein, heimlich oder offen geschehen, aus der Ferne oder durch unmittelbare Nähe.

«Mit der Straßenfotografie wird etwas weitergeführt, das im Impressionismus und Expressionismus sowie im Realismus Einzug in die Kunst hielt: das Leben auf der Straße abzubilden, so wie es ist; nicht als Historienbild, nicht als gestellte Szene, sondern den Alltag der Menschen beim Flanieren, am Wochenende oder beim Verrichten der täglichen Arbeit», so Mitherausgeberin Christina Leber.

Straßenfotografie ist in der Definition des «Road Atlas» Fotografie, die auf oder am Rande von Straßen, Wegen und Plätzen entsteht. Das ist meist spontan, aber manchmal auch inszeniert. Die Bilder handeln meist von Menschen, aber immer von den Spuren und Zeugnissen der Menschen – meist direkt, manchmal auch nur indirekt. Das zeigen die Arbeiten der 29 Fotografen aus 13 Ländern, die erstmals in dem Band vereint sind. Die Bilder reichen von Helen Levitt (1913-2009) bis zur Gegenwart mit Pieter Hugo (*1976). Jedem Fotograf ist ein halbseitiger einleitender Text gewidmet, in dem dessen Sicht interpretiert wird. Danach folgen meist zwei bis vier Fotos. So entsteht eine Zeitreise durch die vergangenen 70 Jahre in Japan, den USA, Deutschland und Europa.

Den Anfang der alphabetischen Anordnung macht der Japaner Nobuyoshi Araki mit seinen 1963 entstandenen Aufnahmen von spielenden Kindern in den Straßen Tokios. Es folgen unter anderem Ursula Arnold, René Burri, Arno Fischer, Robert Häusser, Barbara Klemm und Beat Streuli. Zu sehen sind auch die hollywoodähnlichen Inszenierungen eines Gregory Crewdson, die in Szene gesetzten Porträt-Aufnahmen in den Straßen amerikanischer Großstädte von Johnny H. C. Pack, die Wasseraufnahmen von Naoya Hatakeyama oder die Zeugnisse der Route 66 von Gerd Kittel.

«Kein anderes Genre ist in der Fotografie so schwierig, wie die Überhöhung und Mystifizierung des Alltags, mit dem Blick auf das vermeintlich Banale», heißt es zu den Arbeiten von Stephen Shore.

«Road Atlas» ist eine Spurensuche. Es ist der Versuch, sich diesem vielgestaltigen und ewig faszinierenden Genre zu nähern. Aber nicht in einem streng wissenschaftlichen Ansatz. Dafür waren die Vorgaben zu begrenzt. Denn der «Road Atlas» sollte aus den Beständen der DZ Bank Kunstsammlung entstehen. Aus dieser Sammlung wurden Arbeiten zum Thema Straße zusammengefasst und präsentiert.

Daher fehlen wichtige Ikonen der Straßenfotografie. Dennoch kann sich das Ergebnis in seiner Vielfalt und Breite sehen lassen. «Road Atlas» gibt auch Hinweise, warum bestimmte Aufnahmen zeitlos sind. Nicht alle künstlerische Positionen werden jeden Betrachter überzeugen. Nicht alle erheben sich für jeden Betrachter über das Banale. Dennoch lohnt sich ein Blick in den Band, der auch für die eigene Erkundungstour der eigenen Umwelt Anregungen liefert. Eine Tour, die zumindest in Deutschland, durch das Recht am eigenen Bild inzwischen ganz neue Grenzen erhalten hat.

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168 Seiten, 34,90 Euro

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