Baustellen-Fotografie: Bürokraten-Insel

Baustellen sind wie Ruinen oder andere uns eigentlich bekannte und dennoch exotische Orte eine Fundgrube für spannende Motive.

Leserfoto: Klick für Vollansicht (© Christoph Ermisch).

Kommentar des Fotografen:

Aufgenommen im Ihmezentrum (Sommer 2008) – Hannovers aktueller Baustelle, bei der es mal wieder nicht vorangegangen war. Ein provisorischer Pausenplatz mitten auf der Baustelle, eingerichtet von Arbeitern mit Möbeln aus den umliegenden, abgerissenen Geschäften. Ein unwirklicher, öffentlicher, verlassener Ort mit dem Bedürfnis nach einer geordneten „Bürgerlichkeit“.

Peter Sennhauser meint zum Bild von Christoph Ermisch:

Ein bunter Haufen von Stühlen, zusammengewürfelt und wie zur Konferenz bereitgestellt, inmitten einer staubigen Baustelle. Ein skurriler Anblick, der die wildesten Assoziationen erlaubt. Zweifellos ein spannendes Motiv, das noch dazu durch die Buntheit der kleinen Versammlung in der betongrauen Rohbaustelle farblich reizvoll sein könnte.

Es stellt sich die Frage, ob die Aussage, die Du treffen wolltest, nicht mit verschiedenen Massnahmen besser hätte umgesetzt werden können. Dabei geht es nicht darum, jede Fotografie bis auf das letzte Korn zu planen und zu arrangieren:

Beispielsweise in der Strassenfotografie ist das kaum oder gar nicht möglich. Die grundlegende Aussage allerdings, der inhaltliche Gegenstand des gegenständlichen Bildes, wie es umgesetzt werden wird, ist grade für uns Amateure ein Innehalten und ein paar Gedanken wert. Selbst die besten Meisterfotografen, die längst erklären, nicht mehr zu denken beim Fotografieren, bestätigen einerseits, dass dahinter ganz einfach auch viel Übung steckt. Und wenn man ihre Aufnahmen analysiert ist schnell erkennbar, dass die Technik stimmt, die formalen Regeln eingehalten sind aber eben darüber hinaus – und hier kommt die Kunst ins Spiel – Komposition, Blickwinkel, Lichteinfall und Inszenierung als harmonische Einheit jene Emotionalität evozieren, die eine herausragende Fotografie ausmacht.

Fotografen, welche diese Fähigkeiten noch nicht im Blut haben, tun gut daran, sich vor einer Szene darüber Gedanken zu machen, wie sie am besten das Ausdrückt, wofür das Bild am Ende stehen soll. Die Überlegungen gehen der Wahl der technischen Mittel voraus. Eine Reihe von Fragen, die Du Dir hier vor der Aufnahme hättest stellen können:

  • Schafft hier ein Weitwinkel den Raum, in dem die bürokratischen Stühle ihre Konferenz abhalten?
  • Ist eine Teleaufnahme mit dem Zusammenzug der Gruppe wirksamer?
  • Soll die Stuhlgruppe im Raum mit offener Blende freigestellt werden, oder wollen die hintersten Details ihrer „Umwelt“ erkennbar und in der Schärfe sein?
  • Welche vertikale Perspektive bringt die Aussage am besten rüber: Eher von unten, indem die Stühle zu grösseren Wesen werden, oder eher in einer Art „Draufsicht“ von oben, die die Gruppe statt die Reihe zeigt?
  • Soll der Hintergrund hell oder Dunkel sein, soll die Aussenwelt einen farbigen (grünen) Kontrast zur Baustelle bilden, oder wirkt die Szenerie besser, wenn sie sich im dunkeln Hintergrund der Baustelle verläuft?
  • Muss die ganze Gruppe im Bild sichtbar sein, oder wirkt ein Ausschnitt stärker?

Und so weiter.

Spannend finde ich in diesem Zusammenhang, dass Du eine Perspektive ungefähr auf Hüfthöhe gewählt und damit die Stühle grösser gemacht hast, als sie aus der üblichen Augenhöhe wirken. Dabei geht allerdings der „Gruppeneindruck“ etwas zugunsten der „Reihe“ verloren; mich stört der angeschnittene Stuhl ganz rechts, der doch immerhin den Vorsitz hat, dabei erheblich.

Möglicherweise hast Du auch unwillkürlich den orangefarbenen „Individualisten“ ins Zentrum gerückt, der zweifellos aus der Gruppe heraussticht – und grade drum nicht auch noch im Bildmittelpunkt stehen muss.

Die Tonalität der Aufnahme würde schliesslich wohl auch gewinnen, wenn sie etwas gegen die dunklere Seite hin belichtet wäre: Jetzt brennt der Hintergrund, das offene, grüne Gelände, fast aus, während der Innenraum links nur langsam in den Schatten abfällt. Möglicherweise hätte eine Position von etwas höher oben und von rechts statt links, mit dem in der Dunkelheit sich verlierenden Baustellenraum als Hintergrund und einer Blende, die grade die Stuhlgruppe und nichts davor und dahinter scharfgezeichnet hätte, die Aussage besser unterstrichen – eine Insel der Bürokratie im Ozean des geregelten Chaos.

Kürzlich hat jemand in den Kommentaren die Frage aufgeworfen, ob sich der Fotograf vor der Aufnahme all die Überlegungen auch gemacht hat, welche in der Analyse des Bildes vorkommen. Ich meine, dass das weder anzunehmen noch nötig ist – die Detailanalyse ist der Job eines Kritikers. Je besser eine Fotografin in ihrem Fach ist, desto weniger wird sie nachdenken müssen – sei es über die anzuwendende Technik oder die Perspektive und Komposition.

Es gibt Hilfsmittel: Mir ist gesagt worden, ich solle in der Landschaftsfotografie eine Szene laut für mich beschreiben und werde dabei automatisch erkennen, worauf es mir ankommt und was folglich das Bild ausmacht. Andere Lehrer empfehlen, eine einfache Skizze der wichtigsten Linien auf kleinme Kartons zu zeichnen (und später nur noch im Kopf anzulegen), um die kompositorisch spannendste Position zu finden.

Klar ist jedenfalls, dass fast immer ein besseres Bild herauskommt, wenn wir uns mit einer Szene beschäftigen und sie erkunden. Auch oder grade dann, wenn uns auf den ersten Blick ein Eindruck und eine Emotion auf- und eingefallen ist.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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1 Kommentar
  1. Christoph Ermisch
    Christoph Ermisch sagte:

    Hallo!

    Vielen Dank für die ausführliche Kritik – viele angesprochene Punkte, über die ich auch „gestolpert“ bin. Einiges in dem Bild ist vom Zufall bestimmt – der angeschnitte Stuhl gehört allerdings nicht dazu. Das Bild sollte mit Absicht zum rechten Rand hin offenbleiben – eine erwartete Stimmigkeit gebrochen werden.

    Nochmals Danke.

    Antworten

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