Ausstellungsbesucherinnen: Starke Vektoren

Technische Perfektion und Schärfe sind keine Voraussetzung für eine starke Fotografie. Emotionalität, Aussage und Komposition sind massgebend.

Leserinnenfoto: Klick für Vollansicht (© lilo ulke).

Kommentar der Fotografin:

besucherinnen einer ausstellung. ziel: darstellung von bewegung und innehalten

Peter Sennhauser meint zum Bild von Lilo Ulke:

Zwei Frauen in einem Schwarz-Weissen Highkey-Bild bewegen sich schlendernd vom Betrachter weg, die eine, etwas näher im Vordergrund, nach links, die andere nach rechts hinten. Zwischen ihnen führt eine Reihe von drei kreisrunden Bodenelementen schnurgerade in den Bildhintergrund.

Technisch betrachtet gibt es an diesem Bild viel zu bemängeln. Es ist unscharf und mit extremem Kontrast auf Highkey getrimmt, was zu Ausblühungen und Artefakten in den Graubereichen führt. Nicht trotzdem, sondern auch deswegen ist es eine starke Fotografie:

Radikal reduziert, zieht die Fotografie den Betrachter in den Bann seiner ebenso einfachen wie eindeutigen Strukturen. Zwei ihrer Kleidung nach zu schliessen recht verschiedene Frauentypen bewegen sich im gleichen Raum voneinander weg.

Vektoren im BildWir erkennen die Bewegung zunächst an den in entgegengesetzte Richtung führenden Blicken der beiden, die wir als erstes im Bild suchen, und folgen danach in zwei halbrunden Bögen entlang der Mittellinie nach links und rechts. Dabei sind diese Linien rein imaginär und in keiner Art im weissen Negativraum des Bildes zu sehen – wir ziehen sie in unserem Kopf automatisch der Körperhaltung der Frauen folgend.

Das ist eine Steigerung der Kompositionsregel, wonach sich die Bildgestaltung an den vorhandenen Linien im Motiv orientieren soll: Sie an nicht vorhanden, aber fühlbaren Linien auszurichten, könnte als nächste Stufe bezeichnet werden. Du schaffst das hier durch die ideale Perspektive und betonst den Effekt mit der radikalen Reduktion.

Zugleich lässt Du der Betrachterin viel emotionalen Interpretationsspielraum – zwei Menschen, die auseinandergehen; die sich trennen; die nichts miteinander zu tun haben wollen oder die auf anderes konzentriert sind.

Schliesslich kommt die Unschärfe ins Spiel, die ich zunächst für einen Mangel hielt, bis ich erkannte, dass mein Interesse an den beiden Frauen durch die lediglich sphinxhafte Andeutung eines Gesichts, dem kein Ausdruck zu entnehmen ist, nur noch gesteigert wird.

So unterstützen die vermeintlichen Mängel dieser Fotografie ihre Stärke. Ich frage mich trotzdem, warum Du in einer Galerie mit Blende 14 operiert hast. Wenn es um Bewegungsunschärfe und Körnung durch die hohe Empfindlichkeit ging, hast Du das Ziel verfehlt – denn die Unschärfe ist nicht eindeutig aus der bewegung der Frauen erkennbar, sondern könnte auch Verwackelung der Kamera sein.

Ferner stört mich die graue Wand hinten links, die für die Räumlichkeit des Bildes nicht nötig ist, weil Du schon die Linie der drei Bodenelemente hast, die in die Raumtiefe führen – ein hervorragendes Mittel, die in Highkey-Aufnahmen häufig entstehende Zweidimensionalität zu überwinden. Zugleich lässt das Bildformat und die Aufteilung meiner Ansicht nach rechts zu wenig Raum für die Protagonistin.

Retusche und Neuaufteilung

Ich habe die Wand deshalb mit dem „Hintergrund-Radiergummi“-Werkzeug in Photoshop wegretuschiert und das Bild danach ausserdem in eine quadratische Form gebracht sowie die Komposition leicht nach links versetzt.

Ich meine, Du hast Dein Ziel, Bewegung und Innehalten auszudrücken, mit diesem Bild mehr als erreicht. Das Thema ist unverkennbar, aber zugleich nur die Basis für die Interpretationen und emotionalen Deutungen, die sich nach dem ersten Blick auf das Bild im Kopf der Betrachter anbahnen.

Starkes Stück.

In der Rubrik “Bildkritik” analysieren Profi-Fotografen im Auftrag von fokussiert.com montags bis freitags jeweils ein Foto aus der Leserschaft.
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1 Kommentar
  1. rudiralala
    rudiralala sagte:

    Ein tolles Foto. Ich frage mich ob es ein Schnappschuss war oder so aufwändig arrangiert. Egal, in beiden Fällen Gratulation an Lilo.

    Ein gelungenes Beispiel dafür, dass der (von der Industrie angefeuerte) Perfektionismustrend und Technikwahn zumindest in der Hobbyfotografie ein meistens teurer Holzweg ist. Weniger ist mehr! Oder wie beim Auto: Köpfchen statt Zylinder! :-)

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