Schrill und spannend: Schwankende Gestalten

Mit Sonderausrüstung wie dem Lensbaby kann man spannende Motive weiter verfremden. Während dabei vielfach übertrieben wird, ist der Effekt hier zurückhaltend und Bildverstärkend eingesetzt.

Sony Alpha 57, Lensbaby Sweet 35, ISO 800, 1/5 sec, Blendenwert nicht gespeichert - wohl recht weit offen

Sony Alpha 57, Lensbaby Sweet 35, ISO 800, 1/5 sec, Blendenwert nicht gespeichert – wohl recht weit offen

H. Ullrich aus Marienthal: Das Bild ist an einem diesig-feuchten Winterabend an einer Haupverkehrsader in Mainz entstanden. Die Lichter der Straße wurden diffus in der feuchten Luft zu einer mystischen unwirklichen Welt gestreut. Das Lensbaby sweet 35 Objektiv tat das übrige. Ein Stativ hatte ich mal wieder nicht dabei, also habe ich mich für mehr Stabilität mit der Schulter an die Fassadenfront gepresst und die Spiegelung in der Fensterfläche gleich ins Bild mit aufgenommen… (Sony Alpha 57, Lensbaby Sweet 35, ISO 800, 1/5 sec, Blendenwert nicht gespeichert – wohl recht weit offen)

Was ich hier besonders toll finde? Dass man der Aufnahme nicht sofort anmerkt, dass sie mit einem [amazon B004O6MW48]Lensbaby[/amazon] geschossen wurde!

Wir sehen eine nächtliche Strassenszene in Farbe. Es scheint neblig zu sein, wir blicken die ganze linke Bildhälfte einer Glasfront entlang, in der sich vieles, aber nicht alles aus der rechten Bildhälfte spiegelt. Fast genau in der Mitte des Querformatbildes ist eine schemenhafte Gestalt auf einem Fahrrad vor einem grellweissen Licht zu sehen; links davon spiegelt sich in der Fensterfront ein mit dem Rücken zu uns stehender Mann, und ganz rechts, in einem Teil des Bilds, der zwar offenbar nicht mehr Spiegelung, aber trotzdem oder sogar mehr unscharf ist als diese, ist grade noch eine von uns weggehende Frau (mit Handtasche) zu sehen, die gleich hinter dem das Bild im rechten Drittel teilenden Laternenmast verschwinden wird.

Die Technik ist hier sehr schwer zu beurteilen, schon allein deshalb, weil die Verwendung eines Lensbaby kaum mehr geltende Rückschlüsse zulässt. Wir haben diesen Typ des Balgen-Objektivs (super für Anti-Scheimpflug-Effekte) bereits an mehreren Stellen besprochen; ein Lensbaby als Objektivgattung erlaubt es dem Fotografen, nicht nur eine Ebene der Schärfentiefe im Bild zu setzen, sondern einen spezifischen Punkt, und der muss weder im Zentrum des Bildes liegen, noch muss die Schärfenebene rechtwinklig zur Bildebene verlaufen.

Die Firma Lensbaby hat daraus eine ganze Serie von einst recht preiswerten Sonder-Objektiven gemacht, die in verschiedenen Brennweiten, mit Sonderblenden und allerlei weiterem Zubehör erhältlich sind. Du hast hier, wenn ich das richtig verstehe, mit dem [amazonna B00MV64MG4]Grundmodul Lensbaby Composer[/amazonna] mit dem [amazonna B004O6MW48]35mm-Einsatz zum Setzen des Sweetspots[/amazonna] gearbeitet.

Bei meinem Lensbaby-Modell (das allerdings sehr alt ist) wird dabei die Blende manuell als Lochscheibe eingesetzt, was erklären würde, warum Du nicht mehr weisst, was Du benutzt hast. Und das Lensbaby erklärt am Look des Bildes, was ich mir nicht erklären konnte: Der Linke Bildteil ist eindeutig eine Spiegelung, aber rechts ist doch freie Sicht, weshalb ist die direkte Sicht auf die andere Strassenseite (die bunten Lichter) weniger scharf als ihre Spiegelung? Die Antwort ist: Weil das Lensbaby so eingestellt war, dass die Schärfe eher links im Bild liegt.

Fotografie wie ein Strichcode.

Sieben Flächen, keine gleich wie eine andere.

Was die Komposition angeht, bin ich hingerissen von den vielen Verwirrungen und Verrenkungen, die enthalten sind. Zunächst leiten uns die zahlreichen Vertikalen, welche die Aufnahme regelrecht filettieren. Wenn sie nur ind er Spiegelglasfläche aufträten, wäre das fast ein bisschen langweilig; die Regenrinne im Bildzentrum vor der Fassade und der Laternenmast im rechten Bildteil, der sich wiederum links spiegelt, helfen, das Bild in 8 Spalten aufzuteilen, von denen keine zwei gleich breit sind – Super-Spannung.

[premiumkritik]

Das sind die Flächen, jetzt kommen die Lichter: Die sind fast symmetrisch gespiegelt, aber eben nur fast. Ganz links gibt es diesen blauen, weissen und ora ngen Lichtpunkt ohne Gegenstück rechts, und im Bildzentrum, ind er Haupt-Spalte sozusagen, liegt ein weisser Lichtschein ohne Spiegelung. das beste wie gesagt istd er Umstand, dass die Spiegelung des Lichterglanzes schärfer erscheint als das Original ganz rechts.

Keine der Gestalten hat ein Spiegelbild. Faszinierend in einem Bild voller Reflexionen!

Keine der Gestalten hat ein Spiegelbild. Faszinierend in einem Bild voller Reflexionen!

Jetzt kommt der dritte Spannungsgeber dieser Aufnahme, die vier Menschen, die zu sehen sind. Die wiederum sind allesamt ohne Spiegelbild – wie Vampire. Der stehende Mann links ist eindeutig nicht das Spiegelbild, und auch nicht erkennbar der Begleiter der gehenden Frau im linken, unscharfen Bildteil (doch, ist er wahrscheinlich – am Laternenmast ist grade noch seine Hand erkennbar). Und die beiden Figuren ganz am Ende der Fassade im Gegenlicht und ind er Schärfe sind ebenfalls Individuen – eine auf dem Rad, die andere zu Fuss.

Jetzt könnten wir anfangen, Geschichten zu dichten, aber das ist jedem Betrachter selber überlassen. Ich will hier eigentlich nur noch sagen, das mir der unaufdringliche Einsatz des Lensbaby gefällt. Die Aufnahme wäre wahrscheinlich auch mit einem normalen 35mm-Objektiv recht attraktiv geworden, denn die Flächenaufteilung und die Figuren kämen auch dort zur Geltung. Ein Hingucker ist das auf jeden Fall. Die „unerklärliche“ Unschärfe rechts aber sorgt dafür, dass uns der Hingucker nicht mehr loslässt. Grosses (Lensbaby-)Kino.

2 Kommentare
  1. H.Ullrich
    H.Ullrich sagte:

    Wow, vielen Dank für die tolle Bildbesprechung. Für mich wirklich spannend: mein Bild mal mit den Augen eines anderen zu betrachten. Danke dafür!

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  1. […] Street Fotografie zu machen, ohne die Menschen, die man fotografiert, zu zeigen. Wir haben mehr als ein schönes Beispiel für solche Bilder – das hier gehört neu […]

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