„Hyperfokale Distanz“ lautet die kryptische Antwort auf die Frage nach der richtigen Blende in der Landschaftsfotografie. Was ist das? Und warum braucht man deswegen immer ein Stativ?
Eben grade noch habe ich mit riesigem Vergnügen mit meinem neuen 30mm-Objektiv mit Lichtstärke 1.4 herumgespielt und alles in Unschärfe getaucht, was Millimeter vor oder hinter der Schärfenebene lag.
Und jetzt stehe ich im Death Valley und stelle mir und Gary die Frage: Welche Blende sorgt hier für durchgehende Schärfe? – „Deswegen belästige ich all meine Workshopteilnehmer mit meiner Stativ-Lektion“, sagt Gary. „Nur wenn Du ein Stativ hast, kannst Du ohne Rücksicht auf die Verschlusszeit die für Dein Motiv richtige Blende wählen.“ Vielen Dank – die Frage lautete aber eigentlich: Welches ist die richtige Blende? Und warum fotografiere ich, wenn ich sowieso mit dem Stativ unterwegs bin und alles scharf haben will, nicht einfach mit der kleinsten Blende meines Objektivs?

Man stelle sich den Vordergrund unscharf vor… (© PS) 1/20 Sek. bei f / 16, ISO 200, 22 mm (18.0-200.0 mm f/3.5-5.6)

Erstaunlich: Blende 11, mehr Schärfe. 0.8 Sek. bei f / 11, ISO 200, 40 mm (18.0-200.0 mm f/3.5-5.6) (© PS)

Im Vordergrund muss jedes Sandkorn scharf sein. Der Mittelgrund zählt, der Hintergrund ist egal (bloss ausgebrannt hätte er nicht sein dürfen.) 8.0 Sek. bei f / 8.0, ISO 400, 10 mm (10.0-20.0 mm f/4.0-5.6) (© PS)

Auch hier ist die Schärfe im Vordergrund prioritär. Die Dünenkante muss noch akzeptabel scharf sein, die Berge sind nicht mehr relevant. Deswegen f/11 – 1/2 Sek. bei f / 11, ISO 200, 10 mm (10.0-20.0 mm f/4.0-5.6) (© PS)

Der Teufelsgolfplatz im Death Valley. Hier muss der Vordergrund gestochen scharf sein, der Hintergrund passabel. 1/15 Sek. bei f / 16, ISO 200, 13 mm (10.0-20.0 mm f/4.0-5.6) (© PS)
Jetzt werden ein paar Definitionen fällig. Die Blende ist die Lamellen-Mechanik im Innern des Objektivs, welche ein grösseres (kleine Blendenzahl) oder kleineres (grosse Blendenzahl) Loch für das eindringende Licht verursacht. Bei grosser Blende dringt viel Licht ein: Die Verschlusszeit verkürzt sich, aber ebenso die Schärfentiefe: Die Distanz vor und hinter dem Fokuspunkt, in der Bildteile noch scharf abgebildet werden. Eine kleine Blende lässt weniger Licht durch, erhöht die Verschlusszeit und vergrößert die Schärfentiefe.
In der Landschaftsfotografie wird kaum mit geringer Schärfentiefe operiert: Unschärfe wirkt vor allem im Vordergrund irgendwie falsch. (Deswegen wirken Anfänger-Fotos, bei denen der Fotograf auf die entfernten Berge scharf gestellt und damit den Zaun im Vordergrund hat verschwimmen lassen, so – anfängerhaft). Eine Landschaft soll ja vom Betrachter in ihrer ganzen Ausdehnung des Bildausschnitts „begangen“ werden können. Geringe Schärfentiefe ist aber ein radikales Mittel, die Aufmerksamkeit auf einen Punkt im Bild zu lenken. Wenn überhaupt, dann darf in einem Landschaftsbild der ferne Hintergrund leichte Unschärfe aufweisen.
Noch ein Wort zur Schärfe: Ich habe mich immer über die Schärfefanatiker genervt, die in all den Fotoforen herumt(r)ollen und alles und jedes bis in den äussersten Bildwinkel mit der Lupe auf Schärfe untersuchen. Bei Landschaftsbildern allerdings spielt es tatsächlich eine Rolle, dass ein Objektiv (und seine Benutzerin) gleichmässig und möglichst bis an die Bildränder scharfe Abbildungen produziert. Vielfach werden Landschaftsbilder ja auch enorm vergrössert und sollen dabei scharf bleiben (was allerdings auch mit Betrachtungsabstand und Auflösung zusammenhängt, aber dazu ein andermal mehr).
Zurück zur Ausgangsfrage: Welches ist die „richtige“ Blende? Räumen wir zuerst die falsche Antwort aus dem Weg: Es ist nicht die kleinste Blende, welche das Objektiv erlaubt, weil:
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Objektive und vor allem Zoom-Objektive so konstruiert sind, dass sie ihre optimalen Ergebnisse im Mittelbereich (von Brennweite und Blende) erreichen. In den Extremen offenbaren die Objektive ihre Schwächen.
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bei kleiner Blende theoretisch die Schärfe zunimmt, ab einer gewissen Verengung der Blendenöffnung aber plötzlich ein physikalischer Effekt namens „Lichtbeugung“ eine Rolle zu spielen beginnt: Die Lichtstrahlen werden an der Blendenkante abgelenkt. Weil bei einer sehr kleinen Blende der Anteil des Lichts, das der Kante entlang eintritt, proportional steigt, werden die Ergebnisse plötzlich schlechter statt schärfer.
Na toll. Und wie finde ich jetzt heraus, welches die „richtige“ Blende für mein Bild ist?
Nun, eine Version besteht in Ausprobieren: Die meisten digitalen Spiegelreflexkameras haben einen Abblendknopf. Ein Druck darauf schliesst die (für Messzwecke vor dem Auslösen immer maximal geöffnete) Blende auf den voreingestellten wert. Durch den Sucher lässt sich jetzt die Schärfeverteilung im Bild beobachten. Allerdings wird das Sucherbild zugleich dunkler. Im Dämmerlicht ist mit dem Abblendknopf nicht mehr viel anzufangen.
Die Antwort heisst: Miss die Distanz zum im Bild am nächsten gelegenen Vordergrund. Darauf wird scharf gestellt – denn so ist garantiert, dass das Objekt scharf ist. Die „richtige“ Blende ist nun die, welche eine Hyperfokale Distanz aufweist, die dem Abstand zu diesem Vordergrund-Objekt entspricht.
Hyperfo… was? Es klingt schrecklich kompliziert, das ist es aber eigentlich nicht, und vor allem gibts Faustregeln und Hilfstabellen.
„Hyperfokale Distanz“ nennt man die Distanz von einer Kamera zu einem Objekt, ab der bei einer bestimmten Blende und einer bestimmten Brennweite alles hinter dem Fokuspunkt mit einer akzeptablen Schärfe abgebildet wird.
Anders gesagt: Alles ab der halben „Hyperfokalen Distanz“ bis unendlich wird scharf. Aus dem Abstand des vordersten Bildelements zur Linse und der Brennweite lässt sich also die „richtige“ oder vielmehr die optimale Blende berechnen.
Sie ist deshalb optimal, weil sie für durchgehende Schärfe sorgt, zugleich aber das meiste Licht einlässt und damit die kürzestmögliche Verschlusszeit erlaubt.
Die Formel zur Berechnung der Hyperfokalen Distanz für eine Blende lautet „Brennweite im Quadrat geteilt durch (Blendenwert multipliziert mit Unschärfekreis-Durchmesser)“.
Allerdings haben die wenigsten Fotografen Lust, mit dem Taschenrechner für jede Aufnahme die optimale Blende zu berechnen – deshalb gibts es fertig gedruckte Tabellen für verschiedene Objektive und Kameras, und es gibt im Internet Webservices, die einem solche Tabellen berechnen, wenn man die Kamera- und Objektiv-Eckdaten eingibt.
Oh, und Gary, mein Workshopleiter, was macht denn Gary, um die optimale Blende zu finden? „Ich bewege mich meist zwischen Blende 9 und 11. Dort liegt die grösste Schärfe auf dem Vordergrundmotiv, und ein bisschen Unschärfe im Hintergrund schadet nichts. Und wenn doch, dann geh ich ausnahmsweise mal auf Blende 16.“
Aha. Soviel zum Verhältnis von Theorie und Praxis. Aber, um ehrlich zu sein: Mit der Hyperfokalen Distanz und Berechnungstabellen werde auch ich mich wieder beschäftigen, wenn ich meine erste Großformatkamera gekauft habe. Garys Faustregeln reichen mir.